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Zeitbegriff der Kinder

Nur der Zeitbegriff ist immer noch nicht vorhanden. Ich habe viele und kluge Kinder in ihrem dritten Lebensjahre daraufhin in unbefangenem Gespräch genau beobachtet und bin zu einem sicheren Ergebnis gekommen. Der Zeitbegriff ist dem Kinde einzig und allein im Zusammenhange mit seinem Nahrungsbedürfnis anschaulich zu machen, vielleicht in buchstäblichem Sinne anschaulich. Es kann die Worte "vor" und "nach" nur in der Verbindung vor dem Essen, nach dem Essen gebrauchen, vielleicht mit der Vorstellung, dass es damit so sei wie etwas vor dem Tische und hinter dem Tische. Der erste minimale Versuch der Orientierung in der Zeit ist lokal. Davon ausgehend ist dem Kinde das Wort "nachher" verständlich, aber immer nur in dem Sinne von "sofort", nicht klar als etwas Zukünftiges. Das Wort "vorher" ist ihm unbegreiflich. Ebenso plappert es die Worte Vormittag und Nachmittag, Morgen und Abend, gestern, heute und morgen nur sinnlos nach. Preyers Kind gewöhnte sich sogar das sinnlose "heitgestern" an. Auf einen allgemeinen Ausdruck gebracht, besagen diese Tatsachen, dass das dreijährige Kind zwar bereits ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Tatsachen habe, oft ein besseres Gedächtnis als die Erwachsenen, dass die Erinnerungen jedoch, wie sie objektiv in die Zeit zurückgreifen, subjektiv durchaus kein Bewußtsein von der Zeit besitzen. Es scheint mir außer Zweifel zu sein, dass es um das oft erstaunliche Gedächtnis der intelligenteren Tiere ebenso bestellt ist, dass auch sie nicht einen Schimmer von der vierten, zeitlichen Dimension haben, während sie sich in den drei Dimensionen des Raums vorzüglich auskennen — es scheint mir sehr wahrscheinlich, dass auch die beginnenden Menschen der Urzeit von der Zeit nichts wußten. Noch später als auf das Zählen verfielen sie auf das Messen der Zeit. Es würde in unaufhellbare Abgründe führen, wollte ich nun die Frage erörtern, ob die Zeit eine Entdeckung oder eine Erfindung der Menschen sei, ob nicht am Ende das zeitlose Gedächtnis des Kindes und des Tieres ebenso wie das zeitlose Artgedächtnis, als welches uns der menschliche Leib sich darstellt, die Wirklichkeitswelt richtiger auffassen als unser Zeitbegriff, — ob die ganze Mathematik mit ihrer Zählung und ihrer Zeitmessung nicht ein falsches Bild der Natur sei, wie die flache Erdkarte ein falsches Bild der Erde.

Jedenfalls wird das Kind drei Jahre alt, ohne eine Frage nach der Zeit zu stellen. Das Wort "wann" ist ihm noch unbekannt. Aber eine andere Frage hat es vor Ablauf des dritten Lebensjahres stellen gelernt. Die Frage: "warum?" Das Sprechenlernen des Kindes ist zu Ende. Es hat nach vielerlei Versuchen, der Umgebung seine persönliche Ursprache aufzunötigen, sich der Sitte gefügt und die Muttersprache gelernt, welche ihrerseits aus urzeitlichen persönlichen Ursprachen hervorgegangen ist. Jetzt beherrscht das Kind die Sprache und damit die Philosophie seiner Zeit. Es hat zum ersten Mal "warum?" gefragt und auf die Antwort gewartet. Mehr leistet auch die Philosophie nicht.