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Kindersprache

Nachdem wir uns den Sachverhalt, wie wir uns ihn in unserer heutigen Sprache, das heißt nach unserer heutigen Weltanschauung nicht anders deuten können, in seiner ganzen monströsen Ausdehnung und Kompliziertheit vor Augen geführt haben, wollen wir weiterhin mit vollem Bewußtsein den Fehler begehen, die Vorgeschichte der Menschensprache eine Weile nicht zu beachten und die Entstehung der Kindersprache nur mit der menschlichen Ursprache zu vergleichen. Denn es ist am Ende doch ein vorauszusetzender historischer Abschnitt, und es würde in purpurne Finsternis führen, wollten wir den Abschnitt etwa bei der Entstehung der Amphibien aufsuchen. Nun muß vor allem eins festgehalten werden: dass in den Urzeiten der Menschheit die ganze Menschheit viel primitiver sprechen lernte als heute das erste beste Kind. Nehmen wir beispielsweise an, dass der Hund und das Huhn je drei Sprachlaute besitzen, je drei Begriffe beherrschen, dass der Affe sechs Sprachlaute und Begriffe sein eigen nennt, dass die neugewordene Menschart der Urzeit — um nur eine Ziffer zu nennen — zwölf artikulierte Sprachlaute oder Begriffe besaß, so hatte das Menschenkind jener Urzeit eben auch nicht viel ontogenetisch nachzuholen; konnte aber auch von seiner Mutter nicht viele Begriffe erlernen. Das heutige Kind kommt ebenso stumm auf die Welt wie das der Urzeit, seine Eltern jedoch verfügen je nach der Kultur ihres Volkes und ihrer eigenen Bildung über einige hundert oder gar über einige tausend Sprachlaute oder Worte. Den spielenden Gebrauch dieser Sprache von Hunderten oder Tausenden von Worten hat also das zivilisierte Menschenkind von seiner Umgebung zu lernen. Wir werden später sehen, in wie ungleichem Tempo dieses Lernen erfolgt. Wie es anfangs Monate braucht, bevor das Kind ein oder zwei Worte erlernt, wie dann der Wortvorrat rascher wächst, wie einige Jahre lang das Wachstum so schnell wird, dass täglich nicht nur neue Begriffe, sondern gleich neue Gruppen und neue Analogien hinzukommen, wie dann der erwachsene Mensch wieder langsamer lernt und wie in höherem Alter wieder nur selten einmal ein neues Wort dem Sprachschatze hinzugefügt wird. Wir lassen hier auch den Umstand bei Seite, dass in ebenso ungleichem Tempo auch die Fülle jedes einzelnen Begriffs wächst. An dieser Stelle wollen wir, um mit dem Begriff Ursprache eine bessere Vorstellung verbinden zu können, nur untersuchen, was es eigentlich mit dem Sprechenlernen des Kindes auf sich hat, auf welche Weise die Individualsprache ontogenetisch entsteht.