Zum Hauptinhalt springen

Chinesische Schriftsprache

Für uns ist die Tatsache wesentlich, dass die allen chinesischen Stämmen gemeinsame Schriftsprache noch in ganz anderem Sinne eine Schriftsprache ist als z. B. unsere deutsche Schriftsprache gegenüber den deutschen Dialekten. Unsere deutsche Schriftsprache oder unser Neuhochdeutsch ist bei aller Abhängigkeit von der Literatursprache doch immerhin eine in ganz Deutschland verständliche Lautsprache, die von Königsberg bis Basel auf allen besseren Bühnen gesprochen wird und der sich überall die Schulmeister anzunähern suchen. Als eine solche Lautsprache aller Gebildeten gibt es auch eine gesprochene Schriftsprache der Chinesen. Während aber die deutschen Dialekte je nach ihrem Klang mit unseren Buchstaben in der Dialektdichtung nachgeahmt und so von der Schriftsprache unterschieden werden, ist die eigentliche Staatssprache in China nur dadurch gemeinsam, dass die Schrift gemeinsam ist. Eine Verordnung der Regierung wird in allen chinesischen Provinzen öffentlich angeschlagen, in der gleichen Druckschrift, wird überall gleich verstanden, aber die gleiche Druckschrift wird in den verschiedenen Provinzen verschieden gelesen. Da diese Druckschrift aber durchaus keine Bildersprache, sondern eine höchst ausgebildete Wortsprache ist, so haben wir eine Psychologie des Lesens vor uns, in welche wir uns nicht leicht hineindenken können.

Es scheint damit in enger Verbindung zu stehen, dass die chinesische Bildung und der chinesische Unterricht, der niedere wie der höhere, rein historischer, insbesondere philologischer Art ist, nur dass die Philologie der Chinesen mit Kalligraphie seltsame Beziehungen aufweist. Diese merkwürdige historisch-kalligraphische Gelehrsamkeit hat die Europäer angesteckt, die sich mit dem chinesischen Schrifttum beschäftigt haben. Es gibt aus alter Zeit — die Chinesen setzen diese Erfindung ihrer Schrift noch nicht fünftausend Jahre zurück — eine kleine Tafel, welche acht Zeichen und deren Kombinationen enthält. Es sind die Kombinationen dreier Striche von zwei ungleichen Längen, z. B. ☰ ☶ ☲ usw. Die Tafel heißt das Jking Fohis, das heißt das Buch J, dessen Erfindung dem mythischen König Fohi zugeschrieben wird. Auf uns macht diese Tafel den Eindruck, als ob wir die erste Seite eines Schreibheftes mit den Elementen der Schrift vor uns hätten. Die Chinesen haben über dieses Buch J eine Bibliothek von Tausenden von Werken zusammengeschrieben, und so hat man auch in Europa die unglaublichsten Deutungen versucht. Leibniz suchte mathematische Geheimnisse darin.

Ich erwähne diese Kindereien, weil sie charakteristisch sind für die Geistesrichtung Chinas. Auch bei uns zerbrechen sich die Gelehrten ihre Köpfe über rätselhafte Inschriften, aber sie erhoffen von der Lösung doch immer nur Mehrung ihres historischen Wissens; die Geistesrichtung der Chinesen dagegen ist so potenziert historisch, dass sie Bereicherung ihrer realen Kenntnisse von solchen Beschäftigungen erwarten, was bei uns doch nur noch Theologen zuzutrauen wäre. Wenn nun die Chinesen Schriftstücke, die bloß einige hundert Jahre alt sind, in demselben Sinne behandeln wie das Buch J und ferner die Tafel Loschu, so ist es klar, dass sie sich wie unsere alten Scholastiker im Kreise herumdrehen und nicht einmal das bißchen Welterkenntnis der Europäer erlangen können. Es ist bezeichnend, dass darum der größte Teil der chinesischen Literatur moralisches Geschwätz ist, welches dadurch für die Erkenntnis nicht wertvoller wird, dass es braves moralisches Geschwätz ist.