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Phonetik

Eine der neuesten Wissenschaften ist die Phonetik. Wir sind alle Alexandriner genug, um uns an den hübschen Ergebnissen dieser Trompetenlehre zu erfreuen. Wenn wir aber prüfen, zu welchem Zwecke diese Unterabteilung geschaffen wurde, so sieht es mit seiner Erreichung traurig aus.

Die Sprachwissenschaft stand vor der Tatsache, dass die menschlichen Sprachlaute, die man als die genialste Schöpfung des anonymen Autors Seele bewundert, einerseits die aus der Physik bekannten Schallwellen sind, dass anderseits die Trompete (Lunge, Luftröhre, Kehlkopf, Mund- und Nasenhöhlen) ein physiologisches Instrument ist. Da die Sprachwissenschaft auf geschichtlichem und psychologischem Wege ihre beiden Kreuzfragen, die nach dem Ursprung und die nach der Entwicklung der Sprache, nicht beantworten konnte, so versucht sie es nun wie die andern Geisteswissenschaften mit der Naturwissenschaft. Der ägyptische König bei Herodot, der Kinder ohne menschlichen Umgang unter Ziegen aufwachsen ließ, um den Ursprung der Sprache zu studieren, und der eine Art ägyptisches Ziegenmeckern zur Antwort bekam, — dieser König experimentierte wenigstens kühn. Unsere Phonetiker experimentieren vorsichtig mit dem Kehlkopfspiegel und keck mit der tausendfach vergrößerten Stanniolplatte des Phonographen, aber sie werden es nicht einmal bis zu einem sicheren Meckern bringen. Gute kleine Nutzanwendungen niedlicher kleiner Beobachtungen sind da, aber sie erhöhen nicht unsere Kenntnis der Sache.

Die Schwierigkeit liegt genau dort, wo sie jedesmal in der Entwicklungslehre liegt. Wir haben auf der einen Seite die längst nicht mehr neue Erfahrung, dass auch Tiere hörbare Töne von sich geben können, auf der andern Seite haben wir menschliche Völkerstämme, deren Mitglieder sich untereinander mit Hilfe solcher Töne über Gegenstände ihres Hungers, ihrer Liebe und ihrer Eitelkeit unterhalten. Dazwischen liegt nun die Entwicklung ungezählter Hunderttausende von Jahren, ja wir könnten sagen, dazwischen liege die Ewigkeit, weil man ja doch schließlich die Weltschöpfung ohne unendliche Zeiträume nicht wird begreifen können. Denken wir uns nun, die Phonetik hätte zu der Erfindung einer idealen Sprechmaschine geführt; wir besäßen eine künstliche Nachahmung der menschlichen Trompete mit künstlichem Blasebalg, künstlichem Kehlkopf, künstlichen Rachen-, Nasen- und Mundhöhlen und anpassungsfähigen Artikulationslappen; angenommen, wir besäßen dazu ein vollkommenes Alphabet aller menschlichen Laute und durch eine Klaviatur könnte unsere Maschine dazu gebracht werden, nicht nur mit reiner Aussprache hottentottisch, französisch und chinesisch, mit den echten Schnalzlauten, Nasaltönen und Sinnakzenten zu sprechen, sondern unsere Maschine wäre auch imstande, durch bequeme Änderung der Artikulationsbasis die Geschichte der Worte zur Darstellung zu bringen, z. B. die Aussprache des Mittelhochdeutschen zu Gehör zu bringen. Eine solche Maschine ist wohl kaum ausführbar, aber denkbar. Was wäre mit ihr gewonnen?

Man könnte mit ihrer Hilfe die paar sogenannten Lautgesetze, welche die Momentbeobachtung der letzten drei Sprachjahrtausende wahrscheinlich gemacht hat, augenscheinlich machen und hörbar zugleich. Es wäre eine epochemachende Spielerei für Prinzen und höhere Töchter, aber wie aus aller Sprache könnte aus der idealen Sprechmaschine nur ein Echo zurücktönen, nur das Echo der alten Philologie. Bis zu den Wurzeln kann die Phonetik die lebendigen Sprachen zurückverfolgen. Sie nennt eben Wurzel das letzte, was sie weiß, so wie ein adeliges Geschlecht den letzten seines Namens, bis zu welchem es nach rückwärts vordringen kann, seinen Ahnherrn nennt. Doch auch Gottfried von Bouillon dürfte einen Vater gehabt haben und dieser seine Ahnen, und hinter den ältesten Wurzeln des Sanskrit stehen unerforschte Sprachzeichen. Für uns müßte die Vorstellung von Sprachwurzeln so sinnlos werden, wie die Erzählung von Adam, dem ersten Menschen, der 3761 Jahre vor Christi Geburt die Sache anfing, aus heiler Haut. So kann die Phonetik zu den Belustigungen der älteren Sprachwissenschaft physikalisch und physiologisch viel hinzufügen, sie kann weiter mit dem in Verwesung begriffenen Material der ewig sterbenden, das heißt lebenden Sprache experimentieren, kann Verwandtschaften aufspüren, kann kuppeln und scheiden, sie kann am andern Ende der Entwicklung wieder wie die Chemie die Urelemente der Sprache auslösen, kann darwinistisch die allmähliche Verbesserung des menschlichen Hörrohrs und der menschlichen Trompete studieren; die ungeheure Brücke von da, wo das erste Wort gesprochen und verstanden wurde, bis dahin, wo der Gottfried von Bouillon unserer Menschensprache fortzuzeugen anfing, wo unsere Sprachwurzeln stehen, diese endlose Brücke ist von der Phonetik nicht zu betreten.

Abgesehen von den Hilfen, welche die Phonetik in allen Arten von Sprachunterricht praktisch gewähren kann, ist ihr negativer Wert für die Erkenntnis nicht zu unterschätzen. Ihre Versuche, die menschlichen Laute natürlich zu ordnen, mußten dahin führen, die uralte Schulmeisterlehre von den selbstherrlichen Silben und Buchstaben umzuwerfen, und es ist gut, wenn wir erfahren, dass die alten Meister der Grammatik nicht einmal die Lautelemente der Sprache richtig beobachtet haben. So werden wir zweifeln lernen an ihren Redeteilen und an ihrer ganzen Analyse des Denkens.

Die als wissenschaftliche Tatsachen verkündeten Beobachtungen und Gesetze der Phonetik erscheinen erst in der richtigen Beleuchtung, wenn man ihnen die ebenso berechtigten Gesetze des Klavierspielens an die Seite stellt. Es läßt sich doch nicht leugnen, dass seit Erfindung des Klaviers große Veränderungen sich vollzogen haben. Vielleicht würde ein Klavierspieler aus dem 17. Jahrhundert das Spiel von Liszt ebensowenig verstanden haben, wie wir die Sprache eines Landsknechts aus dem Dreißigjährigen Kriege. Die Veränderungen verteilen sich auf die Komposition, auf das Instrument und auf die Fingertechnik des Spielers. Die Physiologie des Klavierspiels müßte also in ihrer geschichtlichen Darstellung die Entwicklung der Musik, die Entwicklung des Instruments und die Entwicklung der Fingertechnik bieten. Diese letztere müßte wieder zerfallen in eine Geschichte der Fingerbewegungen und in eine Geschichte der Klavierfinger selbst, an denen die Entwicklung doch gewiß nicht spurlos vorübergegangen ist. Aber die Geschichte der Fingerbewegungen ist nicht Physiologie, und von der Entwicklung der Klavierfinger selbst wissen wir nichts.

So steht es auch mit der Lautphysiologie. Die Bewegungen der Sprachwerkzeuge sind keine Physiologie, und von der vorauszusetzenden Entwicklung der Sprachwerkzeuge wissen wir nichts.