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"Schwester"

Die Ausdehnung eines Begriffs läßt sich nicht erzwingen. So hat der Zufall der Ausbreitung des Christentums in Deutschland dazu geführt, dass das uralte Wort "Schwester" den metaphorischen Sinn einer Genossin erhalten hat, die in einer Klostergemeinschaft wie in einer Familie lebt. Als dieser Gebrauch in den ersten Zeiten des Christentums aufkam, lag ihm wohl ein tiefes Gefühl dafür zugrunde, dass alle Menschen, insbesondere fromme Menschen, Kinder eines Vaters, also Brüder beziehungsweise Schwestern seien. Dieses Gefühl ging wieder verloren, und gerade im Lande des lebendigsten Katholizismus differenzierte sich wenigstens für die männliche Verwandtschaft im Geiste fratello von der metaphorischen Anwendung des Brudernamens; Bruder im Sinne von Ordensbruder heißt frate oder frà, aus frate wurde fratesco, und das heißt geradezu mönchisch.

Als nun im Protestantismus die Klostergemeinschaft in Genossenschaften von Krankenpflegerinnen künstlich nachgebildet wurde, schuf man für die Krankenpflegerinnen die etwas affektierte Anrede Schwester. Hier scheint mir von einer Vorstellung des Geschwisterverhältnisses keine Rede mehr zu sein. "Schwester" ist da zu einem metaphorischen Titel geworden. Im Kloster war die gegenseitige Anrede Bruder und Schwester noch vertraulich; redet ein Laie das Mitglied des Ordens mit Bruder Martin oder Schwester Martine an, so geht der Sprachgebrauch schon ins Titelhafte über. Im Diakonissenhause ist die Anrede Schwester im Verkehre der Damen untereinander titelhaft und wird ganz zum Titel, wenn der reiche Kranke seine Pflegerin so Schwester anredet, wie er seinen Arzt Herr Geheimrat nennt. Er nennt sie Schwester, aber er duzt sie nicht.

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