Zum Hauptinhalt springen

Relative Wurzeln

Lassen wir nun (in dem oben zitierten Satze) die Bezeichnung "prädikativ" als zu unbestimmt beiseite, denken wir nur an die generelle Idee, so wäre die Bemerkung schon richtig, sobald wir jedes Wort auf dasjenige zurückführen, aus dem es zunächst hervorgegangen ist. Wir gelangen so zu einem relativen Begriff der Wurzel, der nur freilich nicht viel besagt. Nehmen wir z. B. ein recht konkretes Wort, wie "Rentmeisterin". Dafür mag meinetwegen das sehr moderne und sehr wenig elementare Wort Rentmeister die relative Wurzel sein; "in" ist dann die Bildungssilbe. In Rentmeister mag man "meister" wie eine Bildungssilbe betrachten, "Rent" für die relative Wurzel erklären und sie dann weiter auf das spätlateinische renta, auf das italienische rendita und dieses wieder auf das lateinische reddere (rendre) und weiter auf dare zurückführen. Jedes ist die relative Wurzel des Vorhergehenden. Ebenso wird man "Meister" auf magister, dieses auf den Begriff des Höheren zurückführen können, immer auf relative Wurzeln. Nun gelangen die Etymologen also schließlich auf Sanskritwurzeln, welche den lateinischen Worten re, dare und magis lautlich und begrifflich entsprechen. Angenommen, es wären für diese Wurzeln noch etwas ältere sogenannte indoeuropäische Wurzeln nachweisbar und von ihnen die Herkunft der lateinischen Worte belegt, so gut wie die zufällige Herkunft des Wortes "Rentmeisterin" von den relativen lateinischen Wurzeln, so wäre es doch der offenbarste Aberglaube, an dieser Stelle innezuhalten, den relativen Begriff aufzugeben und die Sanskritwurzeln für die Urelemente zu halten. Müssen wir uns die Sprache als aus solchen hoch entwickelten Anfängen herstammend denken, so müßte sie allerdings durch ein Wunder auf die Erde gekommen sein. Dann täten wir freilich am besten, einem außerweltlichen Gotte die Erfindung einer fixundfertigen Sprache zuzuschreiben. Nur dass wir uns diesen Gott, der jeden Gegenstand durch eine prädikative Wurzel kenntlich machte, nicht ganz außerweltlich vorstellen dürfen, sondern als ein indoeuropäisches Wesen, das überdies abendländische Logik und abendländische Grammatik studiert hätte.

Man verzeihe mir einen rohen Vergleich. Es käme der Bewohner einer Insel, auf der wohl Vierfüßler, Fische und Pflanzen gegessen würden, auf der es aber keine Vögel und keine Eier gäbe, nach Europa und erhielte da ein Rührei oder eine Omelette vorgesetzt. Unser Insulaner würde nun glauben, der Gott von Europa habe für den Genuß seiner Europäer direkt die Eierspeisen geschaffen. Dieser Glaube scheint mir nicht törichter zu sein als der an die Ursprünglichkeit der Sanskritwurzeln.

Unter den aufmerksameren Sprachforschern begann aus allen diesen Gründen die Erkenntnis aufzudämmern, dass der Begriff der Sprachwurzel ein Abstractum sei, mit welchem die Geschichte der Sprache bei weitem nicht so viel anzufangen wisse, als man jahrzehntelang geglaubt hatte. An verschiedenen Arbeitsstätten zugleich war einst der bildliche Ausdruck geläufig geworden, die Herkunft der Worte wie das Entstehen eines Krautes oder einer Staude auf eine Wurzel zurückzuleiten. Die Sprachwurzel ist unsichtbar wie die Pflanzenwurzel und für das Leben der bezüglichen "Organismen" ebenso notwendig. Das Bewußtsein der Bildlichkeit des Ausdrucks ging dann verloren, wie so oft, und innerhalb der Gilde der Sprachvergleichung glaubte man in der Wurzel einen wissenschaftlichen Begriff zu besitzen, der so selbständig schien, dass man an die Ähnlichkeiten mit der Pflanzenwurzel nicht mehr zu denken brauchte.

Zunächst muß festgehalten werden, dass eine richtige Wurzel kein Wort ist; wo der Sprachforscher noch ein Wort vorfindet, da ruht er nicht eher, als bis er dem Worte wie einem unglücklichen Maikäfer Beine, Flügel, Kopf und Eingeweide herausgerissen hat, wonach er den Rest die Wurzel des Maikäfers nennt. Wie es aber niemals in der Natur einen Maikäfer ohne seine Organe gegeben hat, wie niemals ein lebendiger Maikäfer aus Überresten seiner Leiche entstanden ist, so dürfte wohl auch die Wurzel niemals der lebendigen Sprache angehört haben, ihr auch niemals vorausgegangen sein. Es ist fürs erste gut, wenn wir wissen, dass die Wurzeln tote Hilfskonstruktionen der Grammatiker sind, dass die Wurzeln niemals lebendige Teile einer Sprache sein konnten, weil sie niemals Worte waren.