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Beispiel einer individuellen Sprachentwicklung

Noch einmal: wann sprechen wir richtig? Und wieder ge- nauer: wann spreche ich richtig? Oder: wie bin ich zu der Sprache gekommen, die ich jetzt für richtig halte, so wie ich zu jeder anderen Zeit meine Sprache für richtig gehalten habe? Das Beispiel wird belehrend sein, weil es ein ganz alltägliches Beispiel ist und ganz persönlich und darum sicher gut beoachtet.

Ich bin Ende der vierziger Jahre im Nordosten Böhmens geboren. Dort lernte ich — nach Landesbrauch — zuerst ein paar tschechische Worte; mit den Kindern bis zum dritten Jahre sprechen auch deutsche Eltern tschechisch, weil die Amme Tschechin ist. Dann lernte ich Deutsch; von meinem Vater, der ohne eigentliche Sachkenntnis sehr viel auf gebildete Sprache hielt, ungefähr die Gemeinsprache der Deutschböhmen mit einem leisen Zug nachgeahmter österreichischer Anneesprache; von der Mutter das Deutsch meines Großvaters: viele veraltende Wort- und Satzformen prächtiger altfränkischer Prägung (er stammte aus dem 18. Jahrhundert), dazu einige jüdische Worte und Klanggewohnheiten, endlich alamodisches Einflicken französischer Zierformen. Wir hatten dann einen Hauslehrer; er lehrte uns in harter Aussprache ein charakterloses "reines Deutsch", das in Böhmen übliche. Ich sagte: "ohne dem", "am Land", ich zweifelte nicht daran, dass "Powidl" ein deutsches Wort sei. Es folgte die Zeit des Gymnasiums; die Lehrer unseres Piaristengymnasiums waren im ganzen unwissend, ungebildet, überdies fast ohne Ausnahme Tschechen, die uns ein abscheuliches Slawischdeutsch bewußt und unbewußt beizubringen suchten. Ich bemerke, dass ich hier natürlich — es wäre ebenso unmöglich wie langweilig — unterlassen habe, alle die Dienstmädchen und Straßenkinder, oder auch nur die Geschwister und Verwandten aufzuzählen, die meine Individualsprache mit gebildet haben; ebenso unterlasse ich es, auf die Schulkameraden einzeln hinzuweisen, die jetzt und später — selbst durch mich beeinflußt — mich wieder beeinflußten. Nur um die großen Züge ist es mir zu tun, und schon da wird man spüren, dass die Individualsprache unbeständig ist, wie ein Luftatom in der Atmosphäre und doch immer an seiner richtigen Stelle ist.

Inzwischen hatte ich literarische Neigungen gefaßt, etwa seit meinem 16. Jahre. Seitdem bis auf den heutigen Tag habe ich tausende und abertausende Bücher gelesen, oft mit dem bewußten Streben, die richtige Sprache aus ihnen zu lernen. Jedes Buch muß auf mich gewirkt haben wie jeder Mensch, mit dem ich je ein Wort gewechselt habe.

Ich habe seit derselben Zeit, teils allein teils mit anderen, fremde Sprachen gelernt; jeder fremde Satz muß mein Sprachgefühl beeinflußt haben.

Ich habe auf dem Gymnasium wie alle mich bemüht, aus dem Lateinischen genau, das heißt falsch, ins Deutsche zu übersetzen, und mir so gewiß wie alle anderen die lateinische Periode noch mehr angewöhnt, als ich sie schon in den deutschen Mustern vorfand.

Ich habe auf der Universität Jura studiert und eine große Anzahl Worte in ihrer juristischen Bedeutung vornehmlich zu verstehen mir angewöhnt, dazu eine gewisse Sicherheit im Distinguieren.

Ich habe um diese Zeit angefangen, autodidaktisch Philosophie zu treiben, und habe oft jahre- oder monatelang den Gedankenkreis und damit den Sprachgebrauch eines bestimmten Philosophen unbewußt zu dem meinigen gemacht.

Ich bin nach Berlin übersiedelt, habe da eine ostpreußische Frau genommen und ein Kind erzogen, das berlinisch sprach. Von beiden habe ich unbewußt und bewußt Worte und Wortfolgen angenommen. Vorher war es in Prag ein Kreis von Professoren und ihren Frauen gewesen — meine Lieblinge stammten zufällig aus der Rheingegend, die sich bewußt und unbewußt meiner Sprache annahmen.

Ich habe als Schriftsteller eine Zeitlang die Geschichte der deutschen Sprache studiert, und so weit Historie wirksam ist, war sie wirksam. Ich trieb als Vorstudium zu diesem Werke jahrelang Sprachwissenschaften; und während ich Stoff sammelte, mußte die Form notwendig von dem Inhalt selbst beeinflußt werden. Ja, während des Niederschreibens wuchs die Skepsis gegenüber der Sprache so sehr, dass die Form am Ende wohl wieder das Ergebnis beeinflußt hat und umgekehrt.

Bndlich ist sogar die Sprache dieses Buches nicht ein Monolog, sondern auch wieder etwas "zwischen den Menschen". So mag jeder Schriftsteller bei jedem Buche anders reden, weil er zu anderen zu sprechen träumt.

Es geht diesem Buche also, wie es schließlich jedem einfachsten Satze der lebendigen Sprache geht: es gibt keine allgemeine Richtigkeit für beide, es gibt nur eine individuelle Richtigkeit, wie es nur Individualsprachen gibt. Und am letzten Ende aller Enden ist doch wieder diese Individual-sprache selbst noch abhängig von anderen, weil alle Sprache etwas Gegenseitiges ist.

Ich hoffe, klar gemacht zu haben, was mir noch die Richtigkeit der Sprache sein kann. Die Richtigkeit unserer Gedankenwelt ist nur dann vorhanden, wenn wir von der Wirklichkeitswelt richtige Sinneseindrücke hatten und so in unseren Begriffen einen Vorrat richtiger Erinnerungen besitzen. Wir wissen, dass es schlecht bestellt ist um diese Richtigkeit der Gedankenwelt, dass jeder einzelne Begriff notwendig etwas Schwankendes, Nebelhaftes hat, und dass dieser Fehler sich bei der Verbindung der Begriffe nur noch steigern muß. In diesem Sinne allein ist uns Richtigkeit der Sprache eine ernsthafte Angelegenheit. Die richtige Sprachform — nach Laut und Grammatik — ist zwar Gegenstand besonderer Wissenschaften; sie ist aber für den Fortschritt der menschlichen Erkenntnis im allgemeinen so gleichgültig, wie die Frage des Gigerls, ob "man" in diesem Frühjahr weite oder enge Hosen trage. Der Gigerl meint sich und seine Genossen, wenn er "man" sagt: jeder Mensch ist so der Mittelpunkt — wirklich der Mittelpunkt — eines besonderen Kreises, in welchem "man" richtig spricht. Und wir alle stehen daneben noch in anderen Kreisen richtiger Sprachform, und nicht nur, dass wir jeder richtig sprechen: wir sprechen sogar jedesmal richtig, so oft wir auch verschieden sprechen.

Ist aber ein "richtiges Sprechen" schon im Sinne der Erkenntnistheorie nicht vorhanden, so wird dieser Fehler gewiß noch potenziert dadurch, dass es nicht einmal im volkstümlichen Sinne ein richtiges Sprechen gibt. Richtig ist so viel wie gesetzmäßig. Und hat man sich erst von dem Wortaberglauben befreit, nach welchem Notwendigkeit immer Gesetzmäßigkeit sein muß, wird man den Zufall in der Sprachgeschichte begreifen.