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Was ist Deutsch?

Es ist für unser Denken oder Sprechen eine beschämende Einsicht, dass die Wirklichkeitswelt ebenso ein ewig Werdendes und darum nicht Festzuhaltendes ist, wie die Gedankenwelt oder die Sprache, die ihrerseits wieder nie und nirgends zu einem wissenschaftlichen Präzisionsinstrumente geworden ist. Es geht der Sprache, die mit fließenden Formen ein fließendes Sein erkennen will, wie es der Geschichte der Philosophie geht, die in das Netzwerk der zufällig gegenwärtigen Philosophensprache die Gedanken von unzähligen veralteten Sprachen einfangen will, wobei es oft zugeht, als wie wenn man mit Heringsnetzen Walfische oder mit Harpunen Heringe erbeuten wollte. Der gegenwärtig sprechende Mensch, der die fließende Wirklichkeitswelt erkennen will, ist wie ein Mann, der mit einem Sieb nicht nur Wasser schöpfen, sondern einen Fluß ausschöpfen wollte. Oder das Verhältnis ist auch so, wie wenn ein Blinder einen Läufer verfolgen wollte; die Sprache ist der blinde Nachläufer, und die Wirklichkeitswelt ist der Vorläufer, der freilich ruhig ebenfalls blind sein kann, weil ihm nichts im Wege steht.

Die Tatsache, dass die Menschen einander nicht verstehen können, wird wissenschaftlich am besten so ausgedrückt, dass es wirkend nur Individualsprachen gebe. Für unsere Sprachen ist es uns ein ungewohnter und unbequemer Gedanke, dass Sprachlehre, Wörterbuch und Grammatik, genau genommen immer nur die Sprachlehre eines einzelnen Menschen sei, z. B. die Sprachlehre Goethes, und dass auch diese Individualsprache sich historisch entwickle. Es gibt keine allgemein gültige Sprachrichtigkeit, am wenigsten in den freien germanischen Sprachen.