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Sprachgesetze

Sie haben das aber mit einer Feierlichkeit getan, die in keinem rechten Verhältnis steht zu dem positiven Werte ihrer Leistung. Bevor wir näher betrachten, wie ihre schärfere Bestimmung der Lautgesetze die Anschauung über die Geschichte der Sprache verändert hat, wollen wir einmal für einen Augenblick im allgemeinen betrachten, was der Begriff "Sprachgesetz" eigentlich besagt.

Es will mir scheinen, als ob der Streit um die Gesetze der Sprache Ähnlichkeit habe mit den Streitigkeiten über das Gesetz der Trägheit, welche zur Zeit Galileis die Mechaniker beschäftigten. Heute könnten wir das Gesetz der Trägheit aus den mechanischen Gesetzen fortlassen, wie die Null aus der Reihe der Ziffern. Wir brauchten nur ihre Stelle leer zu lassen. Der allgemein anerkannte Glaubenssatz lautet: es vollzieht sich keine Veränderung ohne Ursache, das heißt natürlich, keine ohne die zureichende, genau bestimmende und zu bestimmende Ursache. Liegt zu einer Änderung keine Ursache vor, so kommt es eben zu keiner Änderung, weder in der Ruhe noch in der Bewegung der Körper. Da nun die Sprache, insofern als wir sie beschreiben können und erklären wollen, eine durchaus mechanische Erscheinung ist, so läßt sich gewiß dieses banale Grundgesetz der Mechanik auch auf sie anwenden. Hätte man Jakob Grimm oder Georg Curtius ausdrücklich danach gefragt, so hätten sie wohl ebensowenig wie die Junggrammatiker gezögert, zuzugeben, dass auch innerhalb der Sprache eine Veränderung ohne Ursache nicht möglich sei. Der ganze Unterschied besteht darin, dass die älteren Sprachforscher noch zu viel mit dem Zeichnen des Grundrisses zu tun hatten, dass erst ihre Nachfolger und Schüler den kühnen Plan fassen konnten, die genau bestimmenden und genau zu bestimmenden Ursachen jeder Sprachveränderung untersuchen zu wollen. Ach, nur zu Beide Parteien hatten sich die Aufgabe gestellt, sogenannte Gesetze der Sprache aufzufinden. Es sollten die Gesetze sein, nach denen die Sprache sich in historischer Zeit verändert hatte. Wir wissen, wie arm der Begriff Gesetz selbst auf dem Gebiete der Mechanik ist. Aber die mechanischen Gesetze haben, wenn auch durchaus keinen erklärenden Wert, so doch einen eminent praktischen, weil sie durch gute Induktionen erworben sind und über die Erfahrung hinaus Geltung haben, das heißt über die historische Zeit hinaus. Die Wirkungen des Hebels und die Fallgeschwindigkeit sind so ausnahmslos, dass wir ein Recht haben zu sagen: diese Gesetze werden unverändert auch in tausend Jahren bestehen und waren ebenso zu einer Zeit wirksam, als es noch keine beobachtenden Menschen auf der Erde gab. Es ist zum mindesten willkürlich, es ist eigentlich naiv, wenn man an die sogenannten Sprachgesetze ähnliche Ansprüche stellt, wenn man aus ihnen die künftige Entwicklung der Sprache vorhersagen will, was noch kaum geschehen ist, oder wenn man mit ihrer Hilfe vorhistorische Sprachzustände rekonstruieren will, was leider diejenigen getan haben, welche die indoeuropäische Ursprache entdecken wollten. Die Gesetze der Sprache sind historische Allgemeinheiten.

Die Veränderungen, welche an einigen Sprachen in historischer Zeit beobachtet worden sind, zerfallen in zwei Gruppen: die Wandlungen der Wortbedeutungen und die Wandlungen der Wortformen. Der Bedeutungswandel entzieht sich durch seine außerordentliche Kompliziertheit und Geistigkeit einer eigentlich gesetzmäßigen Formulierung. Der Kampf um die Sprachgesetze betrifft darum namentlich den Lautwandel, das Wort im weitesten Sinne genommen. Es darf nun nicht übersehen werden, dass die historische Betrachtung dieser Veränderungen überhaupt jüngeren Datums ist. Die Philologie der Alten hatte den historischen Standpunkt noch nicht gewonnen. Wenn die alexandrinischen Gelehrten sich mit der Sprache von Sophokles oder Homeros beschäftigten, so erschienen ihnen veraltete Formen eigentlich weniger alt als falsch. Es scheint beinahe, als ob die alten Sprachen erst hätten tote Sprachen werden müssen, bevor die Philologie anfangen konnte, sich mit ihnen historisch zu beschäftigen.

Will man scharf unterscheiden zwischen der Philologie und der Sprachwissenschaft, so muß man sagen, dass die moderne Sprachwissenschaft nichts anderes sei, als die Anwendung der Philologie auf lebende Sprachen und infolge dessen auf das Leben der Sprache selbst. Sie ist eine ganz neue Geistestätigkeit der Menschen; man hatte früher, was äußerst banal klingt, nur die Vergangenheit historisch betrachtet und die Gegenwart als eine Tatsache hingenommen, die man — auch noch im 18. Jahrhundert — vernünftelnd kritisierte, anstatt sie nach ihrer Herkunft zu fragen. Erst im 19. Jahrhundert ist nacheinander auf allen Wissensgebieten eine geschichtliche Betrachtung der Gegenwart entstanden. Wir besitzen jetzt Versuche, die gegenwärtige Erdmasse geologisch zu erklären, das gegenwärtige Leben auf der Erde darwinistisch. Dahin gehören auch die Versuche der älteren und jüngeren Grammatiker, eine Entwicklungsgeschichte der Sprache zu schreiben. Für diese Geschichte ist die neuere Geologie, die mit der Hypothese von Kant-Laplace beginnt, nur vorbildlich gewesen.