Tanzkunst

 Tanzkunst. Dass diese Kunst eben so viel Recht habe, ihren Rang unter den schönen Künsten zu behaupten als irgend eine der anderen, die durchgehends hochgeschätzt werden, ist bereits aus dem, was wir in dem vorhergehenden Artikel angemerkt haben, klar genug. Wer auf die ersten Gründe der Sache zurückgehen und überlegen will, was für erstaunliche Kraft in der Form der menschlichen Gestalt liegt,1 wird leicht begreifen, was diese Form mit veränderten Stellungen und mit Bewegung verbunden, auszudrücken vermag; daraus wird er den Schluss ziehen, dass an Stärke der ästhetischen Kraft keine Kunst die Tanzkunst übertreffen könne. Wir betrachten sie aber nicht in dem zufälligen schlechten Zustand, in dem sie sich gemeinhin auf der Schaubühne zeigt, sondern in der Würde und Hoheit, zu der sie erhoben werden könnte. Wir sind gar nicht in Abrede, dass sie fast durchgehends sich in einer Gestalt zeige, in der sie wenig Achtung verdient; aber eben deswegen ist es wichtig Männer von Genie zu ermuntern, sie aus der Erniedrigung empor zu heben. »Es ist eine Schande, sagt ein Meister der Kunst, dass der Tanz sich der Herrschaft über die Gemüter, die er behaupten könnte, begeben und bloß mit der Belustigung der Augen zufrieden sein solle.«2

Es würde ein eigenes Werk erfordern etwas ausführlich zu zeigen, wie die Kunst zu dem Wert und der Vollkommenheit, die sie ihrer Natur nach haben könnte, allmählich zu erhöhen sei. Ein Balletmeister von wahrem Genie, wie Noverre, wird aus dem, was wir in dem vorhergehenden Artikel gesagt haben, sich hinlänglich überzeugen können, dass sie einer großen Erhebung über ihre gegenwärtige Beschaffenheit fähig sei, zugleich aber wird er auch das wahre Fundament entdecken, worauf er zu bauen hat, um diese Würde allmählich zu erreichen.

 Was wir von dem Einfluss der Musik auf die Erziehung angemerkt haben,3 gilt auch von der Tanzkunst und diese muss, da sie nicht ohne Musik sein kann, noch gewisser wirken als die Musik allein.

Ungemein leicht wäre es, die Kräfte der Poesie, Musik und Tanzkunst bei der Erziehung zu vereinigen; weil dazu nichts erfordert würde als dass man nach Liedern tanzte. Sollt' es bloß leere Einbildung sein, es nicht nur für möglich, sondern so gar für leicht zu halten, dass zum Behuf der Erziehung eine Sammlung sehr nützlicher Lieder verfertigt, in gute rhythmische Musik gesetzt, und auf jedes ein schicklicher und der Jugend nützlicher Tanz verfertigt würde, der nicht bloß das Rhythmische, sondern auch den Inhalt des Liedes schilderte?

Diese Anwendung des Tanzens würde freilich eine beträchtliche Reinigung der Kunst, von allen bloß zierlichen und besonders von den übertrieben künstlichen Stellungen und Bewegungen erfordern. Denn was allgemein sein soll, muss auch leicht zu lernen sein. Man müsste mehr auf Nachdruck als auf das Künstliche sehen. Es hat damit eben die Beschaffenheit, wie mit der Musik. Wer diese, auch nur zur Ausübung so vollständig lernen wollte, dass er die schwersten Sachen spielen oder singen könnte, müsste den größten Teil seiner Zeit darauf wenden. Aber dazu, dass man ein Lied und andere leichtere Sachen gut singe oder spiele, kann man gelangen, ohne etwas von dem, was sonst der künftigen Lebensart halber zu lernen ist, zu versäumen. Eben so müsste man zum Behuf der Erziehung leichte, aber im Charakter und Ausdruck wichtige Tänze haben, die jeder, ohne Nachteil der anderen Jugendübungen lernen könnte.

 In Ansehung des öffentlichen Gebrauchs dieser Kunst, getrauen wir uns nicht die mancherlei Anwendungen, die bei verschiedenen Völkern ehedem vom Tanzen bei sehr ernsthaften Gelegenheiten gemacht wurden, wieder in Vorschlag zu bringen. Unsre Zeiten vertragen das ceremonienreiche der öffentlichen Feste, das bei einer größeren Einfalt des Nationalcharakters von so großer Kraft ist, nicht. Je weiter sich die spekulative Vernunft ausbreitet, je mehr erhebt sich der Mensch über die Sinnlichkeit: Ob er im Ganzen dabei gewinne oder verliere, können wir hier nicht untersuchen.

 Demnach bleibt der Tanzkunst gegenwärtig kaum ein anderer öffentlicher Gebrauch übrig als auf der Schaubühne. Was für großer Verbesserung sie aber auch da fähig wäre, haben wir bereits erinnert.4 Man kann, nach der Natur der Sachen, von dem Balletmeister mit Recht fordern, dass er in Ansehung des Werts und der Würde dessen, was er uns sehen und hören lässt, mit dem dramatischen Dichter, um den Vorzug streite.

 Zwar wollten wir nicht, dass die alten pantomimischen Tänze in ihrem ganzen Umfange wieder aufkämen. Eine tragische oder komische Handlung, so vollständig, wie der Dichter sie vorstellt, schickt sich für den Tanz nicht. Das Drama, das ohne Reden vorgestellt wird, ist in Ansehung der Ausführlichkeit notwendig enger eingeschränkt als das poetische Drama und diese Einschränkung muss der Balletmeister nicht aus den Augen setzen. Wir haben in dem Artikel Balett, sie einigermaßen zu bestimmen versucht.

 Dass die Tanzkunst und die Musik aller Wahrscheinlichkeit nach, die beiden ältesten Künste seien, ist bereits erinnert worden. Wir wissen auch aus verschiedenen Nachrichten, dass bei Griechen und anderen Völkern alter Zeit, der Tanz nicht bloß zum gesellschaftlichen Ergötzen, sondern bei allen öffentlichen Festen der Religion und des Staates gebraucht worden. Wir halten es um so viel unnötiger uns hierüber weitläufig einzulassen, da wir die Abhandlung des Cahüsac über die alte und neue Tanzkunst, nachdem sie auch in einer deutschen Übersetzung erschienen ist, in den Händen der meisten unserer Leser zu sein glauben. Wie weit es die Alten, besonders die Griechen in dieser Kunst gebracht haben, lässt sich, da ihre Tänze für uns verloren sind, nicht sagen. Dass aber die alten Tänzer, wenigstens in den späteren Zeiten, nämlich unter der Regierung des Augustus und auch schon etwas früher, das wesentliche der Kunst, nämlich den sittlichen und leidenschaftlichen Ausdruck gar sehr in ihrer Gewalt gehabt haben, lässt sich aus vielen bekannten Erzählungen mit Gewissheit schließen. Ich will nur eine Anekdote hiervon anführen. Der Cyniker Demetrius hatte das pantomimische Tanzen, das er nie gesehen, verachtet und geglaubt, die Bewunderung, mit der man davon sprach, rühre mehr von der Musik als vom Tanz her. Ein damaliger Tänzer, unter dem Kaiser Nero, bath ihn, er möchte ihn nur einmal sehen. Dieses geschah, der Tänzer hieß die Musik schweigen und stellte durch sein stilles Balett die bekannte Liebesgeschichte des Mars und der Venus vor. Der Philosoph kam für Vergnügen fast außer sich und rufte dem Tänzer laut zu: »ich höre was du vorstellst, ich seh es nicht blos; denn du scheinest mir mit den Händen zu sprechen.«

 Man kann überhaupt anmerken, dass die Alten den Begriff der Tanzkunst weiter ausgedehnt haben als man in den neueren Zeiten zu tun gewohnt ist. Es lässt sich aus einem Vers in der Ilias5, und besonders aus einer Anmerkung, die Lucian in seinem Gespräch von der Tanzkunst darüber macht, abnehmen, dass auch Leibesübungen, die mit unserer Fechtkunst übereinkommen, darunter begriffen gewesen; und so wohl aus der vorher angeführten Anekdote als aus viel anderen Nachrichten, kann man schließen, dass überhaupt das, was wir jetzt das stumme Spiel der Schauspieler nennen, bei den Römern zum Tanzen gerechnet worden. Überdem ist bekannt, dass die Alten gar oft besondere Charaktere berühmter mythologischer Personen und auch einiger Helden, durch Solotänze geschildert haben: von solchen Schilderungen aber wissen unsere heutige Tänzer wenig. Man findet so gar, dass sie abstrakte Begriffe durch Tänze vorgestellt haben, wie z.B. die Freiheit. Sextus der Empiriker erzählt, dass der Tänzer Sostratus, der bei dem König Antiochus in Diensten war, sich geweigert habe, auf Befehl seines Herrn die Freibeit zu tanzen, weil dieser des Tänzers Vaterstadt Priene sich unterwürfig gemacht hatte. Der Grund der Weigerung macht diesem alten Tänzer keine Schande. »Es steht mir nicht an, sagte er, die Freiheit zu tanzen, die meine Vaterstadt verloren hat«6. Sie haben aber auch solche Tänze gehabt, bei denen es hauptsächlich auf seltsame Sprünge und höchst schwere Gebehrdungen ankommt; denn Crato sagt beim Lucian, es sei schändlich einem Menschen zuzusehen, der sich über alle Maße die Glieder verdrähe7.

 In den neueren Zeiten haben die Italiener den Tanz wieder auf die Schaubühne gebracht und dieses scheint bei Gelegenheit der Opern geschehen zu sein8. In dem letztverwichenen Jahrhundert aber hat man hauptsächlich in Frankreich auf die tralische Tänze gearbeitet. Man gibt durchgehends den Beauchamp, der unter Ludwig dem XIV der erste Directeur de l'Akademie de Danse gewesen, für den ersten großen Meister der Kunst aus. Wir haben aber schon anderswo angemerkt9, dass die ganze Kunst des theatralischen Tanzes der Neueren bis auf die jetzige Zeit, für Personen von Geschmack eben nichts sehr schätzbares gehabt habe. Man hat erst seit wenig Jahren angefangen ihr eine Gestalt zu geben, in welcher sie sich mit Ehren neben den anderen schönen Künsten zeigen kann und dazu hat der berühmte Noverre sowohl durch seine Briefe über den Tanz als durch die von ihm erfundenen und auf die Schaubühne gebrachten Ballete nicht wenig beigetragen. Ein Mann von feinem Geschmack und viel Erfahrung in allem, was zur Schaubühne gehört, hält dafür, dass Hilverding in Wien den ersten Schritt zur wahren Vervollkommnung des theatralischen Tanzes gemacht habe10. Man kann demnach hoffen, da nun ein so guter Grund zur Verbesserung der theatralischen Tanzkunst gelegt worden, dass sie sich endlich in einer Gestalt zeigen werde, die dem edlen Zweck und der Würde der schönen Künste gemäß sei.

 

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1 S. Reiz; Schönheit; Stellung.

2 Il est honteux que la danse renonce à l'empire qu'elle peut avoir sur l'Ame et qu'elle ne s'attache qu'à plaire aux yeux. Noverre lettres sur la danse.

3 S. Musik.

4 S. Ballet; Tanz.

5 Il. II. vs. 617.

6 Sext. Empir. advers. Mathem. L. l.

7 e ’.. .de. de.. .ata...µe..

8 S. Opera.

9 Art. Balett.

10 On peut assurer hardiment que nous n'avons connu (jusqu'au tems de Hilverding) que le simple Alphabet de la Danse. – Des Spectateurs sroids & tranquilles ont admiré nos pas, nos attitudes, nos mouvemens, notre cadence, notre àplomb, avec la même indifference qu'on admire des yeux, des bouches, des nez, des mains, artistement crayonnés. S. Festin de Pierre Ballet-Pantomime composé par Mr. Angiolini & représenté à Vienne en Octob. 1761. Die angeführte Stelle ist aus der Vorrede dieses kleinen Werks, die Hn. Calzabigi zum Verfasser hat, obgleich der Balletmeister Angiolini darin spricht.

 


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