Lage der Sachen

Lage der Sachen. (Schöne Künste) Durch die Lage der Sachen, die man auch mit dem französischen Wort Situation ausdrückt, versteht man die Beschaffenheit aller zu einer Handlung oder Begebenheit gehörigen Dinge, in einem gewissen Zeitpunkt der Handlung, in welchem man das Gegenwärtige als eine Wirkung dessen, das vorhergegangen und als eine Ursache dessen, das noch erfolgen soll, ansieht. Wenn wir uns den Augenblick vorstellen, da Cäsar von Brutus und seinen Mitverschwornen soll umgebracht werden; in diesem Augenblick aber die Handlung als stille stehend betrachten, um jedes einzele, das dazu gehört zu bemerken; die gegenwärtigen Personen, ihre Gedanken und Empfindungen, den Ort und andere Umstände und dieses alles auf einmal, wie in einem Grundris vor uns haben, so fassen wir die gegenwärtige Lage der Sachen.

 In diesen Umständen stellt man sich etwas, das geschehen soll, vor und hat auf einmal viel Dinge, die man als mitwirkend oder als leidend ansieht vor Augen; die Neugierde wird gereizt; man erwartet mit Aufmerksamkeit den Erfolg von so vielen auf einmal zusammenkommenden mit- oder gegen einander wirkenden Dingen. Ist die Handlung an sich selbst wichtig und jetzt auf einen merkwürdidigen Zeitpunkt gekommen, so befinden wir dann uns selbst als Zu schauer, in einem merkwürdigen Zustande, voll Neugierde, Wirksamkeit und Erwartung. Ein solcher Zustand hat ungemein reizendes für lebhafte Gemüter und es scheint, dass wir das Vergnügen unserer Existenz nie vollkommener genießen als in solchen Umständen. Welcher Mensch könnte in einem solchen Falle ohne den bittersten Verdruss sich in der Notwendigkeit befinden, sein Auge von der Szene wegzuwenden, ehe seine Neugierde über die Erwartungen dessen, was geschehen soll, befriediget ist?

 Deswegen ist in dem Umfange der schönen Künste nichts, das uns so sehr gefällt als merkwürdige Lagen der Sachen bei wichtigen Handlungen oder Begebenheiten. Dergleichen auszudenken und deutlich vor Augen zu legen, ist einer der wichtigsten Talente des Künstlers. Man sieht leicht, dass das Merkwürdige einer Lage in dem nahe scheinenden und unvermeidlichen Ausdruch solcher Dinge bestehe, die lebhafte Leidenschaften erwecken. Das, was wir vor uns sehen, setzt uns in Erwartung, die mit Furcht oder Hofnung, mit Verlangen oder Bangigkeit begleitet ist. Je mehr Leidenschaften dabei rege werden, je mehr intressiert die Lage der Sachen. Schon Dinge, deren Erfolg uns gleichgültig ist, können sich in einer Lage befinden, die uns bloß aus Neugierd sehr intressiert. Man wünscht zu sehen, wie die Sachen, die wir verwickelt, gegen einander streitend, sehen, aus einander gehen werden. Die Lagen, da die handelnden Personen in einem völligen Irrtum und in falschen Erwartungen sind oder wo überhaupt etwas wiedersprechendes in den Sachen ist; wo man einen starken Contrast gewahr wird, gehören unter die Interessantesten und können nach Beschaffenheit der Sachen sehr tragisch oder sehr komisch sein. Das Interessante dieser Lagen liegt vornehmlich in der Art des Wunderbaren, der entgegengesetzten Dinge. Unser Gemüt ist dann in der lebhaftesten Fassung, wenn alles, was zu Hervorbringung eines Zustandes erfordert wird, vorhanden zu sein scheint, ohne dass dieser Zustand erfolgt. Wenn wir Zuschauer eines wichtigen Unternehmens sind, an dessen guten oder schlechten Erfolg wir starken Anteil nehmen; so sind wir auf das Lebhafteste in den Augenblicken intressiert, da wir die Entscheidung der Sache für gewiss halten. Dauert dieser Zustand eine Zeitlang oder erfolgt das Gegenteil dessen, was wir erwarteten, so entsteht eine Erschütterung im Gemüte, deren Andenken beinahe unauslöschlich bleibt. Wenn das Unternehmen auf dem Punkt ist zu gelingen oder zu mißlingen, so entsteht eine ausnehmend lebhafte Hofnung oder Furcht; vornehmlich alsdenn, wenn wir sehen, dass die Personen, denen am meisten an einem gewissen Erfolg gelegen ist, das Gegenteil von dem tun, was sie tun sollten. Man kann sich in solchen Umständen kaum enthalten mit zureden oder mitzuwirken. Wenn wir sehen, dass ein Mensch, das, was er am sorgfältigsten verbergen sollte, selbst verrät; wenn er gerade das Gegenteil von dem tut, was er unserem Wunsche nach tun sollte oder wenn er sonst in einem großen und wichtigen Irrtum ist; so fühlen wir eine starke Begierde ihn zurecht zu weisen. Wenn wir sehen, dass Ulysses das Geheimnis seiner Ankunft beim Philoktet notwendig verbergen muss und es doch selbst verrät; so entsteht in uns eine lebhafte Besorgnis. Wir sind in der größten Verlegenheit, wenn wir die Clytemnestra bei ihrer Ankunft in Aulis so vergnügt sehen, da wir doch wissen, wie sehr sie sich betrügt; und wir fühlen ein ausnehmendes Vergnügen, wenn wir einen Bößwicht, wie Ägysth ist, über seine vermeinte Glückselig keit in dem Augenblick frohloken sehen, da der Dolch ihn zu ermorden, schon gezogen ist. Überhaupt sind solche Lagen, wo der Zuschauer die handelnden Personen über Hauptangelegenheiten im Irrtum sieht, der ihnen bald wird benommen werden, höchst interessant. Was kann die Neugierd und Erwartung lebhafter reizen als wenn wir die Elektra beim Sophokles den Orestes, der vor ihr steht als todt beweinen sehen, da wir wissen, dass er auf dem Punkt steht, sich erkennen zu geben?

Es gibt Lagen, die bloß den Verstand und die Neugierd intreßiren, da man äußerst begierig ist zu sehen, wie die Sachen laufen werden; wie sich eine Person aus einer großen Verlegenheit heraushelfen oder zum Zweck kommen wird; wie hier die Unschuld, dort das Verbrechen an den Tag kommen wird, wo wir gar keine Möglichkeit dazu sehen. Solche Lagen sind allemal als sittliche oder politische Aufgaben anzusehen, deren Auflösung wir von dem Dichter zu erwarten haben. Versteht er die Kunst, sie natürlich, ohne erzwungene Maschienen, ohne Hilfe völlig unwahrscheinlicher ohngefährer Zufälle aufzulösen, so hat er dadurch unsere Erkenntnis erweitert. Also können solche, bloß für die Neugierd interessante Lagen, ihren guten Nutzen haben. Es kommen in den menschlichen Geschäften unzählige Lagen vor, wo es äußerst schwer ist, mit einiger Zuversicht eine Partie zu nehmen. Je mehr Fälle von solchen Lagen und deren Entwicklung uns bekannt sind, je mehr Fertigkeit müssen wir auch haben, uns selbst in ähnlichen Fällen zu entschließen. Und dieses ist einer der Vorteile, die wir aus der epischen und dramatischen Dichtkunst ziehen können, wenn nur die Dichter eben so viel Verstand und Kenntnis des Menschen als Genie und Einbildungskraft haben.

 Andre Lagen sind mehr leidenschaftlich und dienen hauptsächlich unser Herz zu prüfen und jede Empfindung, der es fähig ist, darin rege zu machen. Man kann sich in traurigen, fürchterlichen, verzwei felnden, auch in schmeichelhaften, hofnungsvollen, fröhlichen Lagen befinden. Dann ist die ganze empfindende Seele in ihrer größten Lebhaftigkeit. Man lernet sein eigenes Herz nie besser kennen als wenn man Gelegenheit hat, sich in Lagen zu finden, die auf das Gluk des Lebens starken Einfluss haben.

 Die Dichter müssen demnach keine Gelegenheit versäumen, uns, wenigstens als Zuschauer oder Zeugen in solche Lagen zu setzen. Die epischen und dramatischen Dichter haben die besten Gelegenheiten hierzu; und müssen dieses für eine ihre wichtigsten Angelegenheiten halten. Je mehr Erfahrung und Kenntnis der Welt und der Menschen der Dichter hat, je geschickter ist er dazu; denn das bloße Genie, ohne genugsame Kenntnis der Welt, ist dazu nicht hinreichend.

 Hat er eine merkwürdige Lage gefunden, so muss er sich Mühe geben, uns dieselbe recht lebhaft vorzustellen: er muss wissen, unsere Aufmerksamkeit eine Zeitlang auf derselben zu erhalten. Er soll deswegen mit der Handlung nicht forteilen, bis er gewiss vermuten kann, dass wir die Lage der Sachen völlig gefasst haben. Er muss eine Zeitlang nichts geschehen lassen; sondern entweder durch die Personen, die bei der Handlung intressiert sind oder, im epischen Gedicht, durch seine Anmerkungen und Beschreibungen, uns die wahre Lage der Sachen so schildern, dass wir sie ganz übersehen. Die Regel des Horaz Semper ad eventum festinat et in medias res, Non secus ac notas, auditorem rapit. – hat nicht überall statt. Bei merkwürdigen Lagen muss man nichts zur Entwicklung der Sachen geschehen lassen, bis wir den gegenwärtigen Zustand der Dinge völlig gefasst haben.

 


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