Gedanken

Gedanken. (Schöne Künste) Heißt überhaupt jede Vorstellung, in welcher einige Deutlichkeit ist, vermöge welcher man sie durch Zeichen bekannt machen kann. Wenn man insbesonder in Absicht auf die schönen Künste von Gedanken spricht, so versteht man dadurch die Vorstellungen, welche der Künstler durch sein Werk hervorzubringen sucht, insofern sie von der Art, wie sie erregt werden oder sich darstellen, unterschieden sind. Die Gedanken in den Werken der Kunst sind dasjenige, was von einem Werk übrig bleibt, wenn der ästhetische Schmuk davon genommen wird. So sind die Gedanken des Dichters das, was übrig bleibt, wenn der Bau des Verses, der Ton und einige bloß zum Schmuk und zur Ausbildung oder zur Verstärkung dienende Begriffe weggelassen werden.

 Die Gedanken sind demnach die Materie oder der Stoff, der von der Kunst bearbeitet und auf eine ihrem Zweck gemäße Weise vorgetragen wird. Das Ästhetische selbst ist das Zufällige der Gedanken, das Kleid worin sie gezeigt werden oder die Form in welche sie der Künstler bildet. Derowegen sind sie das erste, worauf in jedem Werk der Kunst zu sehen ist. Sie sind der Geist und die Seele des Werks und wenn sie schlecht sind, so kann das ganze Werk keinen großen Wert haben; sondern gleicht jenem Pallaste von Eis, der zwar die richtigste Form eines brauchbaren Gebäudes hat, aber seiner Materie halber unnütz ist und zu dem Gebrauch, den seine Form anzeigt, nicht dienen kann.

 Zu jedem vollkommenen Werk der Kunst werden also zuerst gute, das ist, richtige und nach der Beschaffenheit des Werks interessante Gedanken erfordert. Was Horaz bloß von den redenden Künsten sagt: Scribendi fons est sapere, kann auf alle Künste angewendet werden: Fingendi fons est sapere. Gedanken aber sind Früchte der Vernunft. Mithin ist die wesentliche Grundeigenschaft eines Künstlers, Beurteilungskraft und Vernunft. Denn ohne diese stellet er uns bloße Formen dar, die einen Schein, aber kein wirkliches Wesen haben; pulchra facies cerebrum non habens. Ein bloßer Künstler, der nicht zugleich ein Philosoph ist, das ist, ein vernünftiger Mann, der wichtige und uns interessante Gedanken zu bilden vermag, gleicht einem Koch, der zwar allerhand Arten von schmackhaftem Gewürz im Vorrat hätte, aber keine nahrhafte Speisen, die er damit zu rechte machen könnte.

 Wie der Koch eine Speise haben muss, die er durch seine Kunst zurichtet und schmackhaft macht, so muss der Künstler Gedanken, das ist, Vorstellungen, die dem Geiste Nahrung geben, in Bereitschaft haben und sie durch die Kunst angenehm oder kräftig ma chen. Diesen Begriff von der Kunst müssen die Künstler beständig vor Augen haben, damit sie, durch eine ernstliche Bemühung die wichtigsten Wahrheiten der Philosophie sich bekannt zu machen, durch eine genaue Beobachtung der Menschen und Sitten, hinlänglichen Vorrat von Gedanken anschaffen. Wer nicht fähig ist, wichtige Gedanken in seinem Verstand hervor zu bringen, der hat keinen Stoff zur Bearbeitung für die Künste. Denn dasjenige, was der Mühe nicht wert geachtet wird, ohne ästhetischen Schmuk erkennt zu werden, ist auch des Aufwandes der Auszierung nicht wert. Wer als ein Tor, könnte ein schlechtes und unnützes Gefäß in Gold fassen lassen?

 Bei einem rechtschaffenen Künstler müssen Verstand und gesunde Vernunft die Gaben sein, mit denen sich Witz und feiner Geschmack vereinigen. Ohne jene wird er ein bloßer Zeitvertreiber oder Lustigmacher. Nur eine gründliche, große Art zu denken, mit Talenten die zum Geschmack gehören, verbunden, machen den großen Künstler aus1. Ohne den großen Verstand, ohne die wichtigen Gedanken, die Homer als ein Kenner und Beobachter der Menschen gesammelt und in seinen unsterblichen Gesängen vorgetragen hat, würde er mit allem Feuer der Dichtkunst, mit allem Wohlklang seiner Verse, mit allen wohl gemalten Bildern, niemals der Dichter der vernünftigen Alten geworden sein.

  Nach eben diesen Grundsätzen müssen wir alle Werke der Kunst beurteilen, wenn wir nicht bloße Spiele des Witzes und der Einbildungskraft für wichtige Werke ausgeben wollen. Ein gründlicher Beurteiler der Kunst lässt sich niemals durch die bloße Kunst blenden. Er zieht dem Werk erst das Kleid der Kunst ab, um die Gedanken nakend zu sehen. In dieser Gestalt beurteilt er ihre Wahrheit, ihre Wichtigkeit. Findet er bei dieser Betrachtung nichts wichtiges oder großes, so setzt er das Werk in die Klasse der angenehmen Kleinigkeiten.

 Man muss es sich bei Beurteilung der Werke der Kunst zur Hauptmaxime machen, jeden Gedanken in seiner nakenden Gestalt zu prüfen. Der Künstler, der dieses versäumt, läuft Gefahr oft nichts zu sagen; denn der Schmuk blendet. Man glaubt oft mit dem Ixion, die Juno in seinen Armen zu haben und hat nur ein leeres Phantom. Selbst große Künstler lassen sich bisweilen durch den äußerlichen Glanz verführen, den Gedanken mehr Wert beizulegen als sie haben. Hat nicht der schöne Ausdruck in folgenden Versen den Virgil selbst gehindert, das Falsche in den Gedanken zu sehen? Die Sybille sagt zum Äneas als er eine Reise nach dem Tartarus vornimmt

Tros Anchidiades, facilis descensus Averni, Noctes atque diu patet atri janua Ditis: Sed revocare gradum superasque evadere ad auras Hoc opus, hic labor est.

Der ganze Gedanke ist grundfalsch. In den Worten facilis descensus averni, Noctes etc. wird der Tod oder das Sterben verstanden. Äneas aber will bei lebendigem Leib herunter und da ist das Herunterfahren und Heraufsteigen gleich leicht oder schwer. So bald man einer Vorstellung ihr Kleid ausgezogen, kann man ein zuverläßiges Urteil von dem Wert der Gedanken fällen.

 Sehet ihr ein historisches Gemälde, so suchet zu vergessen, dass es ein Gemälde ist; vergeßt den Maler, dessen zauberische Kunst durch Licht und Schatten Körper hervorgebracht hat, wo keine sind. Stellt euch vor wirkliche Menschen zu sehen und gebet dann auf die Handlungen dieser Menschen Achtung. Sehet zu, ob sie wichtig seien, ob die Personen in ihren Gesichtern, Gebärden und Bewegungen, Gedanken und Empfindungen anzeigen; ob ihr die Sprache ihrer Mienen und Gebärden versteht und ob sie euch etwas merkwürdiges sagen. Findet ihr es nicht der Mühe wert, diesen in eurer Einbildung wirklichen Menschen zuzusehen, so hat der Maler schlecht gedacht. Hört ihr ein Tonstück, so suchet zu vergessen, dass ihr Töne von einem leblosen Instrument hört, die nicht anders als durch eine große Fertigkeit der Finger oder der Lippen hervorgebracht werden können. Stellet euch vor, ihr hört einen Menschen in einer un bekannten Sprache reden und gebet Achtung, ob seine Töne Empfindung ausdrücken; ob sie Ruhe des Gemütes oder Unruhe, sanfte oder heftige Leidenschaften, fröhliche oder traurige anzeigen; ob diese, den einzeln Worten nach unverständliche Sprache, den Charakter eines Redenden ausdrückt, ob er edel oder gemein, ob er als ein vernünftiger oder als ein wahnsinniger spricht. Könnet ihr nichts dergleichen entdecken, so beklaget den Meister, dass er mit so viel Kunst keine Gedanken verbunden hat.

 Auf eben diese Art müssen auch die Gedichte, besonders die lyrischen, beurteilt werden. Nur die Ode hat einen Wert, die, nachdem sie alles Schmuks der Poesie beraubet ist, in dem Gemüt etwas zurück lässt, das ihm Nahrung und Kräfte gibt. Man kann am besten davon urteilen, wenn man sie in die gemeine Sprache übersetzt und ihr so wohl die poetischen Farben als den Klang benimmt. Bleibt dann nichts übrig, das ein Mensch von Verstand und Nachdenken zu seiner Überlegung behalten möchte, so ist die Ode beim schönsten Klang und bei dem glänzendsten Kolorit2 ein schönes Kleid, das einem Mann von Stroh angezogen ist. Wie sehr irren sich die, die sich einbilden, man könne mit reicher Phantasie und einem guten Ohr, ein Odendichter sein.

Erst alsdenn, wenn man die Gedanken eines Werks in ihrer bloßen Gestalt entdeckt hat, lässt sich urteilen, ob das Kleid, das die Kunst ihnen angezogen hat, anständig und ihnen angemessen sei oder nicht. Ein Gedanke, dessen Rang und Wert aus seiner Einkleidung muss erkennt werden, hat eben so wenig eigenen Wert als ein Mensch, der seine Verdienste durch äußerlichen Prunk zeigen will.

 

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1 S. Dichter.

2 S. Farben (poetische)

 


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