Beweisarten

Beweisarten. Es ist nicht genug, dass der Redner die Gründe gefunden habe aus welchen die Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit einer Sache erkennt wird; er muss diese Gründe so zu behandeln und so vorzutragen wissen, dass sie ihre völlige Wirkung tun; dieses ist eigentlich das vornehmste in der Kunst zu beweisen.1 Die Beweisgründe hat der Redner mit dem Philosophen und mit dem gemeinen Mann gemein; aber ihre Behandlung, die Art sich ihrer zu bedienen, ist ihm eigen. Dadurch kann er sich als einen großen Redner zeigen, dass er so gründlich als der Weltweise, obgleich nicht so abstrakt und nicht so genau methodisch; so einfach als der gemeine Mann, aber nicht so nachläßig und so wankend in seinen Beweisen ist.

 Zu dieser rednerischen Behandlung der Beweise gehören verschiedene Dinge; die Form des Beweises an sich selbst; die Ausziehrung und Ausführung; der Ton und Vortrag desselben. Hier ist von dem ersten Punkt, nämlich der Form des Beweises die Rede.

 Die Beweisarten sind für den Redner dieselben, die der Philosoph braucht; alle Arten der Vernunftschlüße nach ihren mannigfaltigen Formen und Gestalten. Jede Rede oder ein Teil derselben, darin der Beweis einer Sache ausgeführt wird, muss sich in einen Vernunftschluß auflösen lassen, der, wenn der Redner gründlich gewesen ist, so wohl in der Materie als in der Form seine völlige Richtigkeit habe. Nun gibt es, wie bekannt, ungemein viel Arten solcher Vernunftschlüsse, deren jeder seine eigene Form und Gestalt hat. Der Redner muss diejenige zu wählen wissen, die der besonderen Beschaffenheit seiner Materie am gemäßesten und zugleich für seine Zuhörer die einleuchtendste ist. Der Philosoph sieht in der Wahl der Beweisart auf Kürze und Deutlichkeit, der Redner aber auf Klarheit und Sinnlichkeit.

  Also ist der Grundriss einer jeden Abhandlung der beweisenden Rede oder eines Hauptteils desselben allemal ein Vernunftschluß von drei oder von zwei Sätzen. Diesen zu erfinden ist die erste Arbeit des Redners. Wenn Cicero gegen den Cecilius beweisen will, dass er und nicht dieser zum Ankläger des Verres müsse bestellt werden, so macht er diesen Vernunftschluß. »Wen der Beleidigte zum Ankläger seines Feindes haben will, der muss ihm auch gegeben werden. Nun verlangen die Einwohner Siciliens mich und keinen anderen; also muss ich die Klage gegen den Verres führen.« Der erste Teil der Rede ist eine Ausführung dieses Vernunftschlusses und so verhält es sich mit jeder beweisenden Rede.

 Da es unendlich weitläufig sein würde, Regeln für die Wahl jeder besonderen Form der Vernunftschlüsse zu suchen, so begnügen wir uns, die zwei Hauptarten der Beweise näher zu betrachten und das wesentlich ste, was der Redner dabei zu bedenken hat, anzuführen.

 Die zwei Hauptarten der Beweise sind die, welche Cicero mit dem Namen Inductio und Ratiocinatio bezeichnet.2 Die erstere besteht darin, dass man aus ähnlichen Fällen schließt; die andere schließt aus der notwendigen Verbindung der Begriffe.

 Die Induction besteht also darin, dass man für die Wahrheit, welche man beweisen will, Fälle aussucht, in welchen dieselbe ganz unzweifelhaft und offenbar ist, danach aus diesen besonderen Fällen entweder einen allgemeinen oder auf einen anderen besonderen, jenen ähnlichen Fall, passenden Schluss macht. Dergleichen ist dieses:

 »Wenn ein junger Mensch von einem Flötenspieler in seiner Kunst so unterrichtet worden ist, dass er schon sehr gut gespielet hat, danach aber von einem schlechten Spieler wieder verdorben worden ist; kann man denn die Schuld, dass er schlecht spielt, auf den ersten Meister legen? – Keinesweges. Oder wenn ein Hofmeister seinem Untergebenen gute und bescheidene Sitten angewöhnt hat, dieser aber sich danach durch andere wieder zu schlechten und groben Sitten hat verführen lassen, wird man dieser Sitten halber den ersten Hofmeister beschuldigen? – Gewiss nicht. So wird man auch dem Sokrates die Schuld nicht beimessen können, dass die Jünglinge, denen er Lust zur Tugend gemacht hat, nachher von anderen verführt worden.«3 Dieses ist die Beweisart, deren sich Sokrates mit so glücklichem Erfolg bedient hat. Ihr größter Vorteil besteht darin, dass sie die Erkenntnis der Wahrheit in ein Gefühl derselben verwandelt. Sie schickt sich sowohl für einfältige als gelehrte Zuhörer: jenen wird sie durch ihre Faßlichkeit angenehm, diesen durch das lebhafte Gefühl der Wahrheit und durch den Reiz der Ähnlichkeit.4 Mit der Fabel und mit der Allegorie kommt sie darin überein, dass sie ein lebhaftes und unwandelbares Gefühl der Wahrheit erweckt.

  Die Induktion kann verschiedene Gestalten annehmen. Sokrates kleidete sie fast allezeit in Fragen ein, so wie es sich zur Beredsamkeit des Umganges am besten schickt. Die Moralisten geben ihr auch eine andere Form, indem sie einen oder mehr ähnliche Fälle, an denen die Wahrheit leicht zu fühlen ist, als Beschreibungen, Gemälde oder Erzählungen, anbringen und so zeichnen, dass der Zuhörer alles vor sich zu sehen glaubt.

 Bei Behandlung dieser Beweisart hat der Redner vornehmlich auf folgende Dinge zu sehen: 1. dass die Wahrheit, wovon er überzeugen will, in den ähnlichen Fällen, die er anführt, völlig offenbar sei. 2. Dass diese Fälle eine vollkommene Ähnlichkeit mit dem Falle haben, über welchen eigentlich das Urteil des Zuhörers soll festgesetzt werden. 3. Dass dieser nicht gleich merke, wohin die angeführten ähnlichen Fälle zielen, damit er desto freier von allem Vorurteil, sich dem Gefühl des Wahren überlasse.

  Dazu gehören besondere rednerische Gaben, die vielleicht seltener sind als irgend ein anderes Talent des Redners. So wenig glänzendes die vollkommene Induction hat, so schwer ist es, dieselbe zu erreichen. Wer nicht vorzüglich die Gabe hat, von den gemeinesten Dingen, nicht nur ohne Niedrigkeit, sondern interessant zu sprechen, muss sich nicht daran wagen; denn die ähnlichen Fälle müssen notwendig von Dingen hergenommen werden, die täglich vorkommen, die also nicht den geringsten Reiz haben als den sie durch die Kunst des Redners bekommen.

 Die zweite Hauptart der Beweise ist die, welche durch Entwicklung der Begriffe zum Zweck kommt. (Ratiocinatio) Diese haben die Gestalt eines förmlichen und vollständigen Vernunftschlusses ( Sillogismus), der aus zwei Vordersätzen und dem daraus fliessenden Schlusssatz besteht. Diese Beweisart ist demnach nicht so popular als die erstere; sie ist mehr philosophisch als rednerisch. Die ganze Abhandlung der Rede, in der ein solcher Beweis geführt wird, muss sich auf drei Sätze bringen lassen. Die beiden Vordersätze müssen, wie aus der Vernunftlehre bekannt ist, unläugbar sein, wenn die Überzeugung folgen soll. Daher entstehen also bei dieser Beweisart die fünf Teile der Abhandlung, deren Notwendigkeit Cicero gegen einige Lehrer der Redner behauptet.5 Der erste Teil enthält den deutlichen Vortrag des Obersatzes. Der zweite Teil enthält die vollkommene Bestätigung dieses Satzes. Wenn diese so vollendet ist, dass kein Zweifel übrig bleiben kann, so folgt der Untersatz als der dritte Teil; hierauf dessen Bestätigung, die den vierten Teil ausmacht und endlich der Schluss als der fünfte Teil. Der zweite und vierte Teil sind die wichtigsten; deswegen auch die Redner allemal den größten Fleiß auf dieselben wenden.

 Diese Beweisart behandelt der Redner anders als der Philosoph, indem er die Begriffe nie bis auf ihre einfachsten Teile entwickelt. Er bleibt bei bloß klaren Begriffen stehen, wenn er sie nur dem anschauenden Erkenntnis fühlbar genug machen kann. Hauptsächlich aber unterscheidet er sich durch die Erweiterung seiner Sätze und durch die Art, die Begriffe festzusetzen. Der Philosoph begnügt sich, jeden der drei Sätze seiner Vernunftschlüsse kurz und bestimmt durch das Subjekt und das Prädicat auszudrucken. Der Redner druckt den Satz auf mehrere Arten, durch Umschreibung und durch Erweiterung aus; er wiederholt ihn mit anderen Worten und in anderen Wendungen; er sucht ihn nicht nur dem Verstand, sondern so viel möglich auch der Einbildungskraft und dem Gefühl einzuprägen. In Entwicklung der Begriffe bleibt der Redner bei dem Zusammengesetzten stehen, wo der Philosoph alles, bis auf das Einfache, zergliedert: eine Beschreibung, ein Gemälde, ein Beispiel oder ein Bild dient ihm statt einer Erklärung, wenn nur der Begriff dadurch einen großen Grad der Klarheit bekommt. Der Philosoph begnügt sich mit einem Beweisgrund zur Bestätigung eines Satzes, er scheint gegen seine Zuhörer ganz gleichgültig zu sein; der Redner führt mehrere an, um das ganze Gemüt von der Wahrheit der Sache einzunehmen; ihm ist daran gelegen, dass seine Zuhörer so lange bei jeder Sache verweilen, bis sie sich mit aller möglichen Kraft dem Gemüte eingeprägt hat. Er lässt kein Mittel unversucht, der Wahrheit neue Kraft zu geben und fügt einen pathetischen Beweis hinzu. Dieser besteht darin, dass in dem Zuhörer solche Leidenschaften erweckt werden, die für den Schluss sprechen; Mitleiden mit dem Beklagten, Zorn gegen den Ankläger etc. So macht er aus einem Vernunftschluß, den der Philosoph in einem Atem vorbringt, eine lange Rede, in welcher wechselsweise Verstand, Einbildungskraft und Empfindung für die Wahrheit der Sachen intereßirt werden.

 

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1 Est prudentiæ pæ ne mediocris, quid dicendum sit videre; alterum est in quo oratoris vis illa divina virtusque cernitur, ea quæ dicenda sunt copiose, ornate, varieque posse dicere. Cic.

2 Omnis igitur ratiocinatio aut per inductionem tractanda est, aut per ratio cinationem. de Invent. L. I. 

3 S. Xenophons Memor. Socr. L. I.

4 S. Ähnlichkeit. 

5 De Invent. L. I.

 


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