Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe in Verbindung mit natürlicher Zuchtwahl


Die im ersten Kapitel angeführten Tatsachen lassen wenig Zweifel daran übrig, dass bei unseren Haustieren der Gebrauch gewisse Teile gestärkt und vergrößert und der Nichtgebrauch sie verkleinert hat, und dass solche Abänderungen erblich sind. In der freien Natur hat man keinen Maßstab zur Vergleichung der Wirkungen lang fortgesetzten Gebrauches oder Nichtgebrauches, weil wir die elterlichen Formen nicht kennen; doch tragen manche Tiere Bildungen an sich, die sich am besten als Folge des Nichtgebrauches erklären lassen. Wie Professor R. OWEN bemerkt hat, gibt es keine größere Anomalie in der Natur, als dass ein Vogel nicht fliegen könne, und doch sind mehrere Vögel in dieser Lage. Die südamerikanische Dickkopfente kann nur über der Oberfläche des Wassers hinflattern und hat Flügel von fast der nämlichen Beschaffenheit wie die Aylesburyer Hausenten-Rasse; es ist eine merkwürdige Tatsache, dass nach der Angabe von Mr. CUNNINGHAM die jungen Vögel fliegen können, während die erwachsenen dies Vermögen verloren haben. Da die großen am Boden weidenden Vögel selten zu anderen Zwecken fliegen, als um einer Gefahr zu entgehen, so ist es wahrscheinlich, dass die fast ungeflügelte Beschaffenheit verschiedener Vogelarten, welche einige ozeanische Inseln jetzt bewohnen oder früher bewohnt haben, wo sie keine Verfolgungen von Raubtieren zu gewärtigen hatten, vom Nichtgebrauche ihrer Flügel herrührt. Der Strauss bewohnt zwar Kontinente und ist von Gefahren bedroht, denen er nicht durch Flug entgehen kann; aber er kann sich selbst durch Stossen mit den Füssen gegen seine Feinde so gut verteidigen wie einige der kleineren Vierfüßer. Man kann sich vorstellen, dass der Urerzeuger der Gattung der Strausse eine Lebensweise etwa wie die Trappe gehabt habe, und dass er in dem Maße, wie er in einer langen Generationsreihe immer größer und schwerer geworden ist, seine Beine immer mehr und seine Flügel immer weniger gebraucht habe, bis er endlich ganz unfähig geworden sei, zu fliegen.

KIRBY hat bemerkt (und ich habe dieselbe Tatsache beobachtet), dass die Vordertarsen vieler männlicher Kothkäfer oft abgebrochen sind; er untersuchte siebenzehn Exemplare seiner Sammlung und fand in keinem auch nur eine Spur mehr davon. Onitis Apelles hat seine Tarsen so gewöhnlich verloren, dass man dies Insekt so beschrieben hat, als fehlten sie ihm gänzlich. In einigen anderen Gattungen sind sie wohl vorhanden, aber nur in verkümmertem Zustande. Dem Ateuchus oder heiligen Käfer der Ägypter fehlen sie gänzlich. Die Beweise für die Erblichkeit zufälliger Verstümmelungen sind für jetzt nicht entscheidend; aber der von BROWN-SÉQUARD beobachtete merkwürdige Fall von der Vererbung der an einem Meerschweinchen durch Beschädigung des Rückenmarks verursachten Epilepsie auf dessen Nachkommen sollte uns vorsichtig machen, wenn wir die Neigung dazu leugnen wollten. Daher scheint es vielleicht am geratensten, den gänzlichen Mangel der Vordertarsen des Ateuchus und ihren verkümmerten Zustand in einigen anderen Gattungen nicht als Fälle vererbter Verstümmelungen, sondern lieber als von der lange fortgesetzten Wirkung ihres Nichtgebrauches bei deren Stammvätern abhängend anzusehen; denn da die Tarsen vieler Kotkäfer fast immer verloren gehen, so muss dies schon früh im Leben geschehen; sie können daher bei diesen Insekten weder von wesentlichem Nutzen sein, noch viel gebraucht werden.


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