6. Kapitel

Vom Gesetz

 

Wenn ich sage, dass der Gegenstand der Gesetze immer allgemein ist, so meine ich damit, dass das Gesetz die Untertanen insgesamt und die Handlungen an sich ins Auge fasst, dagegen nie einen Menschen als einzelnen und ebensowenig eine besondere Handlung. Demnach kann das Gesetz wohl bestimmen, dass es Privilegien geben soll, kann sie aber niemandem namentlich verleihen. Das Gesetz kann mehrere Staatsbürgerklassen schaffen und sogar die Eigenschaften angeben, die diesen Klassen Recht geben werden, kann aber nicht die Aufnahme dieses oder jenes in eine derselben verfügen. Es kann eine königliche Regierung und eine erbliche Thronfolge einführen, aber es kann weder einen König erwählen noch eine königliche Familie ernennen. Mit einem Worte: jedes mit einem Einzelwesen vorzunehmende Geschäft ist der gesetzgebenden Gewalt entzogen.

Auf Grund dieser Vorstellung sieht man sofort, dass man nicht mehr danach fragen darf, wem die Gesetzgebung gebührt, da die Gesetze Akte des allgemeinen Willens sind; auch nicht, ob der Fürst über den Gesetzen steht, da er ein Glied des Staates ist, ebensowenig ob das Gesetz ungerecht sein kann, da niemand gegen sich selbst ungerecht ist; und ebenfalls nicht, wie man frei und doch zugleich den Gesetzen unterworfen sein kann, da letztere nur Verzeichnisse unserer eigenen Willensmeinungen sind.

Ferner ist es begreiflich: da das Gesetz die Gesamtheit des Willens mit der des Gegenstandes verbindet, so ist der eigenmächtige Befehl irgendeines Menschen, wer er auch immer sein möge, niemals ein Gesetz; sogar was das Staatsoberhaupt über einen einzelnen Gegenstand verordnet, ist durchaus nicht ein Gesetz, sondern eine Verordnung, nicht ein Akt der Oberherrlichkeit, sondern der Obrigkeit. Republik nenne ich deshalb jeden von Gesetzen regierten Staat, möge die Form der Verwaltung auch sein, welche sie wolle, denn nur in diesem Falle gebietet das Staatsinteresse, und gilt jede Angelegenheit als Staatsangelegenheit. Jede rechtmäßige Regierung ist republikanisch. Was eine Regierung ist, werde ich späterhin erklären.

Die Gesetze sind eigentlich nur die Bedingungen der bürgerlichen Genossenschaft. Das Volk, das Gesetzen unterworfen ist, muss auch ihr Urheber sein; nur denen, die sich verbinden, liegt es ob, die Bedingungen der Vereinigung zu regeln. Aber wie sollen sie sie regeln? Etwa auf Grund einer gemeinschaftlichen Übereinstimmung infolge einer plötzlichen Begeisterung? Besitzt der politische Körper ein Organ, um seine Willensmeinungen auszusprechen? Wer wird ihn mit der nötigen Voraussicht ausrüsten, um die Beschlüsse im voraus zu fassen und bekannt zu machen, oder wie wird er sie, sobald es sich nötig macht, aussprechen? Wie sollte eine blinde Menge, die oft nicht weiß, was sie will, weil sie selten weiß, was ihr heilsam ist, imstande sein, ein so großes, so schweres Unternehmen wie ein System der Gesetzgebung ist, von sich selbst auszuführen? Von sich selbst will das Volk immer das Gute, aber es erkennt dasselbe nicht immer von sich selbst. Der allgemeine Wille ist stets richtig, allein das Urteil, welches ihn leitet, ist nicht immer im klaren. Man muss ihn die Gegenstände so sehen lassen, wie sie sind, bisweilen so, wie sie ihm erscheinen sollen; man muss ihm den rechten Weg, den er sucht, weisen, ihn vor der Verführung durch den Willen einzelner hüten, ihm die Orte und Zeiten näher vor Augen stellen und den Reiz der gegenwärtigen und sichtbaren Vorteile durch die Gefahr der entfernten und verborgenen Übel ausgleichen. Die einzelnen sehen das Gute, das sie verwerfen; der Staat will das Gute, das er nicht sieht. Alle bedürfen der Führer in gleicher Weise; erstere muss man zwingen, ihren Willen der Vernunft anzupassen, letzteren muss man zur Erkenntnis dessen bringen, was er will. Dann geht im Gesellschaftskörper aus der allgemeinen Einsicht die Vereinigung des Urteils und des Willens hervor, und das Ergebnis davon ist das genaue Zusammenwirken der einzelnen Teile und schließlich die höchste Kraft des Ganzen. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit eines Gesetzgebers.

 


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