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[Der Mensch der Überzeugung und
der wissenschaftliche Mensch]

631.

Aus den Zeiten her, in welchen Menschen daran gewöhnt waren, an den Besitz der unbedingten Wahrheit zu glauben, stammt ein tiefes Missbehagen an allen skeptischen und relativistischen Stellungen zu irgendwelchen Fragen der Erkenntnis; man zieht meistens vor, sich einer Überzeugung, welche Personen von Autorität haben (Väter, Freunde, Lehrer, Fürsten), auf Gnade oder Ungnade zu ergeben, und hat, wenn man dies nicht tut, eine Art von Gewissensbissen. Dieser Hang ist ganz begreiflich und seine Folgen geben kein Recht zu heftigen Vorwürfen gegen die Entwicklung der menschlichen Vernunft. Allmählich muss aber der wissenschaftliche Geist im Menschen jene Tugend der vorsichtigen Enthaltung zeitigen, jene weise Mässigung, welche im Gebiet des praktischen Lebens bekannter ist, als im Gebiet des theoretischen Lebens, und welche zum Beispiel Goethe im Antonio dargestellt hat, als einen Gegenstand der Erbitterung für alle Tasso’s, das heißt für die unwissenschaftlichen und zugleich tatlosen Naturen. Der Mensch der Überzeugung hat in sich ein Recht, jenen Menschen des vorsichtigen Denkens) den theoretischen Antonio nicht zu begreifen; der wissenschaftliche Mensch hinwiederum hat kein Recht, jenen deshalb zu tadeln, er übersieht ihn und weiß außerdem, im bestimmten Falle, dass jener sich an ihn noch anklammern wird, so wie es Tasso zuletzt mit Antonio tut.