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Die Entsinnlichung der höheren Kunst

217.

Die Entsinnlichung der höheren Kunst. — Unsere Ohren sind, vermöge der außerordentlichen Übung des Intellekts durch die Kunstentwicklung der neuen Musik, immer intellektualer geworden. Deshalb ertragen wir jetzt viel größere Tonstärke, viel mehr „Lärm“, weil wir viel besser eingeübt sind, auf die Vernunft in ihm hin zu horchen, als unsere Vorfahren. Tatsächlich sind nun alle unsere Sinne eben dadurch, dass sie sogleich nach der Vernunft, also nach dem „es bedeutet“ und nicht mehr nach dem „es ist“ fragen, etwas abgestumpft worden: wie sich eine solche Abstumpfung zum Beispiel in der unbedingten Herrschaft der Temperatur der Töne verrät; denn jetzt gehören Ohren, welche die feineren Unterscheidungen, zum Beispiel zwischen cis und des, noch machen, zu den Ausnahmen. In dieser Hinsicht ist unser Ohr vergröbert worden. Sodann ist die hässliche, den Sinnen ursprünglich feindselige Seite der Welt für die Musik erobert worden; ihr Machtbereich, namentlich zum Ausdruck des Erhabenen, Furchtbaren, Geheimnisvollen, hat sich damit erstaunlich erweitert; unsere Musik bringt jetzt Dinge zum Reden, welche früher keine Zunge hatten. In ähnlicher Weise haben einige Maler das Auge intellektualer gemacht und sind weit über Das hinausgegangen, was man früher Farben- und Formenfreude nannte. Auch hier ist die ursprünglich als hässlich geltende Seite der Welt vom künstlerischen Verstande erobert worden. — Was ist von alledem die Konsequenz? je gedankenfähiger Auge und Ohr werden, um so mehr kommen sie an die Grenze, wo sie unsinnlich werden: die Freude wird in’s Gehirn verlegt, die Sinnesorgane selbst werden stumpf und schwach, das Symbolische tritt immer mehr an Stelle des Seienden, — und so gelangen wir auf diesem Wege so sicher zur Barbarei, wie auf irgend einem anderen. Einstweilen heißt es noch: die Welt ist hässlicher als je, aber sie bedeutet eine schönere Welt als je gewesen. Aber je mehr der Ambraduft der Bedeutung sich zerstreut und verflüchtigt, um so seltener werden Die, welche ihn noch wahrnehmen: und die Übrigen bleiben endlich bei dem Hässlichen stehen und suchen es direkt zu genießen, was ihnen aber immer misslingen muss. So gibt es in Deutschland eine doppelte Strömung der musikalischen Entwicklung: hier eine Schaar von Zehntausend mit immer höheren, zarteren Ansprüchen und immer mehr nach dem „es bedeutet“ hinhörend, und dort die ungeheuere Überzahl, welche alljährlich immer unfähiger wird, das Bedeutende auch in der Form der sinnlichen Hässlichkeit zu verstehen und deshalb nach dem an sich Hässlichen und Ekelhaften, das heißt dem niedrig Sinnlichen, in der Musik mit immer mehr Behagen greifen lernt.