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Kultus des Genius’ aus Eitelkeit

162.

Kultus des Genius’ aus Eitelkeit. — Weil wir gut von uns denken, aber doch durchaus nicht von uns erwarten, dass wir je den Entwurf eines Rafaelischen Gemäldes oder eine solche Szene wie die eines Shakespeare’schen Drama’s machen könnten, reden wir uns ein, das Vermögen dazu sei ganz übermäßig wunderbar, ein ganz seltener Zufall, oder, wenn wir noch religiös empfinden, eine Begnadigung von Oben. So fördert unsere Eitelkeit, unsere Selbstliebe, den Kultus des Genius’: denn nur wenn dieser ganz fern von uns gedacht ist, als ein miraculum, verletzt er nicht (selbst Goethe, der Neidlose, nannte Shakespeare seinen Stern der fernsten Höhe; wobei man sich jenes Verses erinnern mag: „die Sterne, die begehrt man nicht“). Aber von jenen Einflüsterungen unserer Eitelkeit abgesehen, so erscheint die Tätigkeit des Genie’s durchaus nicht als etwas Grundverschiedenes von der Tätigkeit des mechanischen Erfinders, des astronomischen oder historischen Gelehrten, des Meisters der Taktik. Alle diese Tätigkeiten erklären sich, wenn man sich Menschen vergegenwärtigt, deren Denken in Einer Richtung tätig ist, die Alles als Stoff benützen, die immer ihrem innern Leben und dem Anderer mit Eifer zusehen, die überall Vorbilder, Anreizungen erblicken, die in der Combination ihrer Mittel nicht müde werden. Das Genie tut auch Nichts, als dass es erst Steine setzen, dann bauen lernt, dass es immer nach Stoff sucht und immer an ihm herumformt. Jede Tätigkeit des Menschen ist zum Verwundern kompliziert, nicht nur die des Genie’s: aber keine ist ein „Wunder“. — Woher nun der Glaube, dass es allein beim Künstler, Redner und Philosophen Genie gebe? dass nur sie „Intuition“ haben? (womit man ihnen eine Art von Wunder-Augenglas zuschreibt, mit dem sie direkt in’s „Wesen“ sehen!) Die Menschen sprechen ersichtlich dort allein von Genius, wo ihnen die Wirkungen des großen Intellektes am angenehmsten sind und sie wiederum nicht Neid empfinden wollen. Jemanden „göttlich“ nennen heißt „hier brauchen wir nicht zu wetteifern“. Sodann: alles Fertige, Vollkommene wird angestaunt, alles Werdende unterschätzt. Nun kann Niemand beim Werke des Künstlers zusehen, wie es geworden ist; das ist sein Vorteil, denn überall, wo man das Werden sehen kann, wird man etwas abgekühlt. Die vollendete Kunst der Darstellung weist alles Denken an das Werden ab; es tyrannisiert als gegenwärtige Vollkommenheit. Deshalb gelten die Künstler der Darstellung vornehmlich als genial, nicht aber die wissenschaftlichen Menschen. In Wahrheit ist jene Schätzung und diese Unterschätzung nur eine Kinderei der Vernunft.