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Zur Frage der Verständlichkeit

381.

Zur Frage der Verständlichkeit. — Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiss auch nicht verstanden werden. Es ist noch ganz und gar kein Einwand gegen ein Buch, wenn irgend Jemand es unverständlich findet: vielleicht gehörte eben dies zur Absicht seines Schreibers, — er wollte nicht von „irgend Jemand“ verstanden werden. Jeder vornehmere Geist und Geschmack wählt sich, wenn er sich mitteilen will, auch seine Zuhörer; indem er sie wählt, zieht er zugleich gegen „die Anderen“ seine Schranken. Alle feineren Gesetze eines Stils haben da ihren Ursprung: sie halten zugleich ferne, sie schaffen Distanz, sie verbieten „den Eingang“, das Verständnis,wie gesagt, — während sie Denen die Ohren aufmachen, die uns mit den Ohren verwandt sind. Und dass ich es unter uns sage und in meinem Falle, — ich will mich weder durch meine Unwissenheit, noch durch die Munterkeit meines Temperaments verhindern lassen, euch verständlich zu sein, meine Freunde: durch die Munterkeit nicht, wie sehr sie auch mich zwingt, einer Sache geschwind beizukommen, um ihr überhaupt beizukommen. Denn ich halte es mit tiefen Problemen, wie mit einem kalten Bade — schnell hinein, schnell hinaus. Dass man damit nicht in die Tiefe, nicht tief genug hinunter komme, ist der Aberglaube der Wasserscheuen, der Feinde des kalten Wassers; sie reden ohne Erfahrung. Oh! die große Kälte macht geschwind! — Und nebenbei gefragt: bleibt wirklich eine Sache dadurch allein schon unverstanden und unerkannt, dass sie nur im Fluge berührt, angeblickt, angeblitzt wird? Muss man durchaus erst auf ihr fest sitzen? auf ihr wie auf einem Ei gebrütet haben? Diu noctuque incubando, wie Newton von sich selbst sagte? Zum Mindesten gibt es Wahrheiten von einer besonderen Scheu und Kitzlichkeit, deren man nicht anders habhaft wird, als plötzlich, — die man überraschen oder lassen muss ... Endlich hat meine Kürze noch einen andern Wert: innerhalb solcher Fragen, wie sie mich beschäftigen, muss ich Vieles kurz sagen, damit es noch kürzer gehört wird. Man hat nämlich als Immoralist zu verhüten, dass man die Unschuld verdirbt, ich meine die Esel und die alten Jungfern beiderlei Geschlechts, die Nichts vom Leben haben als ihre Unschuld; mehr noch, meine Schriften sollen sie begeistern, erheben, zur Tugend ermutigen. Ich wüsste Nichts auf Erden, was lustiger wäre als begeisterte alte Esel zu sehn und Jungfern, welche durch die süßen Gefühle der Tugend erregt werden: und „das habe ich gesehn“ — also sprach Zaratustra. So viel in Absicht der Kürze; schlimmer steht es mit meiner Unwissenheit, deren ich selbst vor mir selber kein Hehl habe. Es gibt Stunden, wo ich mich ihrer schäme; freilich ebenfalls Stunden, wo ich mich dieser Scham schäme. Vielleicht sind wir Philosophen allesamt heute zum Wissen schlimm gestellt: die Wissenschaft wächst, die Gelehrtesten von uns sind nahe daran zu entdecken, dass sie zu wenig wissen. Aber schlimmer wäre es immer noch, wenn es anders stünde, — wenn wir zu viel wüssten; unsre Aufgabe ist und bleibt zuerst, uns nicht selber zu verwechseln. Wir sind etwas Anderes als Gelehrte: obwohl es nicht zu umgehen ist, dass wir auch, unter Anderem, gelehrt sind. Wir haben andre Bedürfnisse, ein andres Wachstum, eine andre Verdauung: wir brauchen mehr, wir brauchen auch weniger. Wie viel ein Geist zu seiner Ernährung nötig hat, dafür gibt es keine Formel; ist aber sein Geschmack auf Unabhängigkeit gerichtet, auf schnelles Kommen un Genau Wanderung, auf Abenteuer vielleicht, denen nur die Geschwindesten gewachsen sind, so lebt er lieber frei mit schmaler Kost, als unfrei und gestopft. Nicht Fett, sondern die größte Geschmeidigkeit und Kraft ist das, was ein guter Tänzer von seiner Nahrung will, — und ich wüsste nicht, was der Geist eines Philosophen mehr zu sein wünschte, als ein guter Tänzer. Der Tanz nämlich ist sein Ideal, auch seine Kunst, zuletzt auch seine einzige Frömmigkeit, sein „Gottesdienst“...