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Ältere Kunst und die Seele der Gegenwart

126.

Ältere Kunst und die Seele der Gegenwart. — Weil jede Kunst zum Ausdruck seelischer Zustände, der bewegteren, zarteren, drastischeren, leidenschaftlicheren, immer befähigter wird, so empfinden die späteren Meister, durch diese Ausdrucks-Mittel verwöhnt, ein Unbehagen bei den Kunstwerken der älteren Zeit, wie als ob es den Alten eben nur an den Mitteln gefehlt habe, ihre Seele deutlich reden zu lassen, vielleicht gar an einigen technischen Vorbedingungen; und sie meinen hier nachhelfen zu müssen — denn sie glauben an die Gleichheit ja Einheit aller Seelen. In Wahrheit ist aber die Seele jener Meister selber noch eine andere gewesen, größer vielleicht, aber kälter und dem Reizvoll-Lebendigen noch abhold: das Mass, die Symmetrie, die Geringachtung des Holden und Wonnigen, eine unbewusste Herbe und Morgenkühle, ein Ausweichen vor der Leidenschaft, wie als ob an ihr die Kunst zugrunde gehen werde, — dies macht die Gesinnung und Moralität aller älteren Meister aus, welche ihre Ausdrucks-Mittel nicht zufällig, sondern notwendig mit der gleichen Moralität wählten und durchgeisteten. — Soll man aber, bei dieser Erkenntnis, den später Kommenden das Recht versagen, die älteren Werke nach ihrer Seele zu beseelen? Nein, denn nur dadurch, dass wir ihnen unsere Seele geben, vermögen sie fortzuleben: erst unser Blut bringt sie dazu, zu uns zu reden. Der wirklich „historische“ Vortrag würde gespenstisch zu Gespenstern reden. — Man ehrt die großen Künstler der Vergangenheit weniger durch jene unfruchtbare Scheu, welche jedes Wort, jede Note so liegen lässt, wie sie gestellt ist, als durch tätige Versuche, ihnen immer von neuem wieder zum Leben zu verhelfen. — Freilich: dächte man sich Beethoven plötzlich wiederkommend und eins seiner Werke gemäß der modernsten Beseeltheit und Nerven-Verfeinerung, welche unsern Meistern des Vortrags zum Ruhme dient, vor ihm ertönend: er würde wahrscheinlich lange stumm sein, schwankend, ob er die Hand zum Fluchen oder Segnen erheben solle, endlich aber vielleicht sprechen: „Nun! Nun! Das ist weder Ich noch Nicht-Ich, sondern etwas Drittes — es scheint mir auch etwas Rechtes, wenn es gleich nicht das Rechte ist. Ihr mögt aber zusehen, wie ihr’s treibt, da ihr ja jedenfalls zuhören müsst, — und der Lebende hat recht, sagt ja unser Schiller. So habt denn recht und lasst mich wieder hinab“.