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Die Sitte und ihr Opfer

89.

Die Sitte und ihr Opfer. — Der Ursprung der Sitte geht auf zwei Gedanken zurück: „die Gemeinde ist mehr wert als der einzelne“ und „der dauernde Vorteil ist dem flüchtigen vorzuziehen“; woraus sich der Schluss ergibt, dass der dauernde Vorteil der Gemeinde unbedingt dem Vorteile des einzelnen, namentlich seinem momentanen Wohlbefinden, aber auch seinem dauernden Vorteile und selbst seinem Weiterleben voranzustellen sei. Ob nun der einzelne von einer Einrichtung leide, die dem Ganzen frommt, ob er an ihr verkümmre, ihretwegen zugrunde gehe — die Sitte muss erhalten, das Opfer gebracht werden. Eine solche Gesinnung entsteht aber nur in denen, welche nicht das Opfer sind — denn dieses macht in seinem Falle geltend, dass der einzelne mehr wert sein könne als viele, ebenso dass der gegenwärtige Genuss, der Augenblick im Paradiese vielleicht höher anzuschlagen sei als eine matte Fortdauer von leidlichen oder wohlhäbigen Zuständen. Die Philosophie des Opfertiers wird aber immer zu spät laut: und so bleibt es bei der Sitte und der Sittlichkeit: als welche eben nur die Empfindung für den ganzen Inbegriff von Sitten ist, unter denen man lebt und erzogen wurde — und zwar erzogen nicht als einzelner, sondern als Glied eines Ganzen, als Ziffer einer Majorität. — So kommt es fortwährend vor, dasss der einzelne sich selbst, vermittels seiner Sittlichkeit, majorisiert.