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Sklave und Idealist

546.

Sklave und Idealist. — Der Epiktetische Mensch wäre wahrlich nicht nach dem Geschmacke Derer, welche jetzt nach dem Ideale streben. Die stete Spannung seines Wesens, der nach Innen gewendete unermüdliche Blick, das Verschlossene, Vorsichtige, Unmitteilsame seines Auges, falls er sich einmal der Außenwelt zukehrt; und gar das Schweigen oder Kurzreden: Alles Merkmale der strengsten Tapferkeit, — was wäre das für unsere Idealisten, die vor Allem nach der Expansion lüstern sind! Zu alledem ist er nicht fanatisch, er hasst die Schaustellung und die Ruhmredigkeit unserer Idealisten: sein Hochmut, so groß er ist, will doch nicht die Anderen stören, er gesteht eine gewisse milde Annäherung zu und möchte Niemandem die gute Laune verderben, — ja er kann lächeln! Es ist sehr viel antike Humanität in diesem Ideale! Das Schönste aber ist, dass ihm die Angst vor Gott völlig abgeht, dass er streng an die Vernunft glaubt, dass er kein Bussredner ist. Epiktet war ein Sklave: sein idealer Mensch ist ohne Stand und in allen Ständen möglich, vor Allem aber wird er in der tiefen, niedrigen Masse zu suchen sein, als der Stille, Sich- Selbst-Genügende innerhalb einer allgemeinen Verknechtung, der sich nach Außen hin für sich selber wehrt und fortwährend im Zustande der höchsten Tapferkeit lebt. Von dem Christen unterscheidet er sich vor Allem hierin, dass der Christ in Hoffnung lebt, in der Vertröstung auf „unaussprechbare Herrlichkeiten“, dass er sich beschenken lässt und das Beste von der göttlichen Liebe und Gnade, und nicht von sich, erwartet und annimmt: während Epiktet nicht hofft und sein Bestes sich nicht schenken lässt, — er besitzt es, er hält es tapfer in seiner Hand, er macht es der ganzen Welt streitig, wenn diese es ihm rauben will. Das Christentum war für eine andere Gattung antiker Sklaven gemacht, für die willens- und vernunftschwachen, also für die große Masse der Sklaven.