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Die Tyrannen des Geistes

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Die Tyrannen des Geistes. — Der Gang der Wissenschaft wird jetzt nicht mehr durch die zufällige Tatsache, dass der Mensch ungefähr siebenzig Jahre alt wird, gekreuzt, wie es allzulange der Fall war. Ehemals wollte Einer während dieses Zeitraumes an’s Ende der Erkenntnis kommen und nach diesem allgemeinen Gelüste schätzte man die Methoden der Erkenntnis ab. Die kleinen einzelnen Fragen und Versuche galten als verächtlich, man wollte den kürzesten Weg, man glaubte, weil Alles in der Welt auf den Menschen hin eingerichtet schien, dass auch die Erkennbarkeit der Dinge auf ein menschliches Zeitmaß eingerichtet sei. Alles mit Einem Schlage, mit Einem Worte zu lösen, — das war der geheime Wunsch: unter dem Bilde des gordischen Knotens oder unter dem des Eies des Kolumbus dachte man sich die Aufgabe; man zweifelte nicht, dass es möglich sei, auch in der Erkenntnis nach Art des Alexander oder des Kolumbus zum Ziele zu kommen und alle Fragen mit Einer Antwort zu erledigen. „Ein Rätsel ist zu lösen“: so trat das Lebensziel vor das Auge des Philosophen; zunächst war das Rätsel zu finden und das Problem der Welt in die einfachste Rätselform zusammen zudrängen. Der grenzenlose Ehrgeiz und Jubel, der „Enträtsler der Welt“ zu sein, machte die Träume des Denkers aus: Nichts schien ihm der Mühe wert, wenn es nicht das Mittel war, Alles für ihn zu Ende zu bringen! So war Philosophie eine Art höchsten Ringens um die Tyrannenherrschaft des Geistes, — dass eine solche irgend einem Sehr-Glücklichen, Feinen, Erfindsamen, Kühnen, Gewaltigen vorbehalten und aufgespart sei, — einem Einzigen! — daran zweifelte Keiner, und Mehrere haben gewähnt, zuletzt noch Schopenhauer, dieser Einzige zu sein. — Daraus ergibt sich, dass im Großen und Ganzen die Wissenschaft bisher durch die moralische Beschränktheit ihrer Jünger zurückgeblieben ist und dass sie mit einer höheren und großmütigeren Grundempfindung fürderhin getrieben werden muss. „Was liegt an mir!“ — steht über der Tür des künftigen Denkers.