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Gefahr in der Unschuld

321.

Gefahr in der Unschuld. — Die unschuldigen Menschen werden in allen Stücken die Opfer, weil ihre Unwissenheit sie hindert, zwischen Maß und Übermaß zu unterscheiden und bei Zeiten vorsichtig gegen sich selber zu sein. So gewöhnen sich unschuldige, das heißt unwissende junge Frauen an den häufigen Genuss der Aphrodisien und entbehren ihn später sehr, wenn ihre Männer krank oder frühzeitig welk werden; gerade die harmlose und gläubige Auffassung, als ob diese häufige Art, mit ihnen zu verkehren, das Recht und die Regel sei, bringt sie zu einem Bedürfniss, welches sie später den heftigsten Anfechtungen und Schlimmerem aussetzt. Aber ganz allgemein und hoch genommen: wer einen Menschen und ein Ding liebt, ohne ihn und es zu kennen, wird die Beute von Etwas, das er nicht lieben würde, wenn er es sehen könnte. Überall, wo Erfahrenheit, Vorsicht und abgewogene Schritte not tun, wird gerade der Unschuldige am gründlichsten verdorben werden, denn er muss mit blinden Augen die Hefe und das unterste Gift jeder Sache austrinken. Man erwäge die Praxis aller Fürsten, Kirchen, Sekten, Parteien, Körperschaften: wird nicht immer der Unschuldige als der süßeste Köder zu den ganz gefährlichen und verruchten Fällen verwendet? — so wie Odysseus den unschuldigen Neoptolemos verwendet, um dem alten kranken Einsiedler und Unhold von Lemnos den Bogen und die Pfeile abzulisten. — Das Christentum, mit seiner Verachtung der Welt, hat aus der Unwissenheit eine Tugend gemacht, die christliche Unschuld, vielleicht weil das häufigste Resultat dieser Unschuld eben, wie angedeutet, die Schuld, das Schuldgefühl und die Verzweiflung ist, somit eine Tugend, welche auf dem Umweg der Hölle zum Himmel führt: denn nun erst können sich die düsteren Propyläen des christlichen Heils auftun, nun erst wirkt die Verheißung einer nachgeborenen zweiten Unschuld: — sie ist eine der schönsten Erfindungen des Christentums!