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Tragödie und Musik

172.

Tragödie und Musik. — Männer in einer kriegerischen Grundverfassung des Gemüts, wie zum Beispiel die Griechen in der Zeit des Aschylus, sind schwer zu rühren, und wenn das Mitleiden einmal über ihre Härte siegt, so ergreift es sie wie ein Taumel und gleich einer „dämonischen Gewalt“, — sie fühlen sich dann unfrei und von einem religiösen Schauder erregt. Hinterher haben sie ihre Bedenken gegen diesen Zustand; so lange sie in ihm sind, genießen sie das Entzücken des Außer-sich-seins und des Wunderbaren, gemischt mit dem bittersten Wermut des Leidens: es ist das so recht ein Getränk für Krieger, etwas Seltenes, Gefährliches und Bittersüßes, das Einem nicht leicht zu Teil wird. — An Seelen, die so das Mitleiden empfinden, wendet sich die Tragödie, an harte und kriegerische Seelen, welche man schwer besiegt, sei es durch Furcht, sei es durch Mitleid, welchen es aber nütze ist, von Zeit zu Zeit erweicht zu werden: aber was soll die Tragödie Denen, welche den „sympathischen Affektionen“ offen stehen wie die Segel den Winden! Als die Athener weicher und empfindsamer geworden waren, zur Zeit Plato’s, — ach, wie ferne waren sie noch von der Rührseligkeit unserer Groß- und Kleinstädter! — aber doch klagten schon die Philosophen über die Schädlichkeit der Tragödie. Ein Zeitalter voller Gefahren, wie das eben beginnende, in welchem die Tapferkeit und Männlichkeit im Preise steigen, wird vielleicht allmählich die Seelen wieder so hart machen, dass tragische Dichter ihnen not tun: einstweilen aber waren diese ein Wenig überflüssig, — um das mildeste Wort zu gebrauchen. — So kommt vielleicht auch für die Musik noch einmal das bessere Zeitalter (gewiss wird es das bösere sein!), dann, wenn die Künstler sich mit ihr an streng persönliche, in sich harte, vom dunklen Ernste eigener Leidenschaft beherrschte Menschen zu wenden haben: aber was soll die Musik diesen heutigen allzubeweglichen, unausgewachsenen, halbpersönlichen, neugierigen und nach Allem lüsternen Seelchen des verschwindenden Zeitalters?