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Selbst-Beherrschung und Mäßigung und ihr letztes Motiv

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Selbst-Beherrschung und Mäßigung und ihr letztes Motiv. — Ich finde nicht mehr als sechs wesentlich verschiedene Methoden, um die Heftigkeit eines Triebes zu bekämpfen. Einmal kann man den Anlässen zur Befriedigung des Triebes ausweichen und durch lange und immer längere Zeitstrecken der Nichtbefriedigung ihn schwächen und abdorren machen. Sodann kann man eine strenge regelmäßige Ordnung in seiner Befriedigung sich zum Gesetz machen; indem man in ihn selber auf diese Weise eine Regel bringt und seine Flut und Ebbe in feste Zeitgrenzen einschließt, hat man Zwischenzeiten gewonnen, wo er nicht mehr stört, — und von da aus kann man vielleicht zur ersten Methode übergehen. Drittens kann man sich absichtlich einer wilden und unbändigen Befriedigung eines Triebes überlassen, um den Ekel davon einzuernten und mit dem Ekel eine Macht über den Trieb zu erlangen: vorausgesetzt, dass man es nicht dem Reiter gleich tut, der sein Pferd zu Tode hetzt und selber dabei den Hals bricht, — was leider die Regel bei diesem Versuche ist. Viertens gibt es einen intellektuellen Kunstgriff, nämlich mit der Befriedigung überhaupt irgend einen sehr peinlichen Gedanken so fest zu verbinden, dass, nach einiger Übung, der Gedanke der Befriedigung immer sogleich selber als sehr peinlich empfunden wird (zum Beispiel wenn der Christ sich gewöhnt, an die Nähe und den Hohn des Teufels beim Geschlechtsgenusse, oder an ewige Höllenstrafen für einen Mord aus Rache, oder auch nur an die Verächtlichkeit zu denken, welche zum Beispiel einem Geld-Diebstahl im Auge der von ihm verehrtesten Menschen folgt, oder wenn Mancher schon zu hundert Malen einem heftigen Verlangen nach dem Selbstmord die Vorstellung des Jammers und der Selbstvorwürfe von Verwandten und Freunden entgegengestellt und damit sich auf der Schwebe des Lebens erhalten hat: — jetzt folgen diese Vorstellungen in ihm auf einander, wie Ursache und Wirkung). Hierhin gehört es auch, wenn der Stolz des Menschen, wie zum Beispiel bei Lord Byron und Napoleon, sich aufbäumt, und das Übergewicht eines einzelnen Affektes über die gesamte Haltung und die Ordnung der Vernunft als Beleidigung empfindet: woraus dann die Gewohnheit und die Lust entsteht, den Trieb zu tyrannisieren und ihn gleichsam knirschen zu machen. („Ich will nicht der Sklave irgend eines Appetites sein“ — schrieb Byron in sein Tagebuch.) Fünftens: man nimmt eine Dislokation seiner Kraftmengen vor, indem man sich irgend eine besonders schwere und anstrengende Arbeit auferlegt oder sich absichtlich einem neuen Reize und Vergnügen unterwirft und dergestalt Gedanken und physisches Kräftespiel in andere Bahnen lenkt. Eben darauf läuft es auch hinaus, wenn man einen anderen Trieb zeitweilig begünstigt, ihm reiche Gelegenheit der Befriedigung gibt und ihn so zum Verschwender jener Kraft macht, über welche sonst der durch seine Heftigkeit lästig gewordene Trieb gebieten würde. Dieser oder Jener versteht es wohl auch, den einzelnen Trieb, der den Gewaltherrn spielen möchte, dadurch im Zaume zu halten, dass er allen seinen ihm bekannten anderen Trieben eine zeitweilige Aufmunterung und Festzeit gibt und sie das Futter aufzehren heißt, welches der Tyrann für sich allein haben will. Endlich sechstens: wer es aushält und vernünftig findet, seine gesamte leibliche und seelische Organisation zu schwächen und niederzudrücken, der erreicht natürlich das Ziel der Schwächung eines einzelnen heftigen Triebes ebenfalls damit: wie zum Beispiel Der tut, welcher seine Sinnlichkeit aushungert und dabei freilich auch seine Rüstigkeit und nicht selten seinen Verstand mit aushungert und zu Schanden macht, gleich dem Asketen. — Also: den Anlässen ausweichen, Regel in den Trieb hineinpflanzen, Übersättigung und Ekel an ihm erzeugen, und die Assoziation eines quälenden Gedankens (wie den der Schande, der bösen Folgen oder des beleidigten Stolzes) zu Stande bringen, sodann die Dislocation der Kräfte und endlich die allgemeine Schwächung und Erschöpfung, — das sind die sechs Methoden: dass man aber überhaupt die Heftigkeit eines Triebes bekämpfen will, steht nicht in unserer Macht, ebenso wenig, auf welche Methode man verfällt, ebenso wenig, ob man mit dieser Methode Erfolg hat. Vielmehr ist unser Intellekt bei diesem ganzen Vorgange ersichtlich nur das blinde Werkzeug eines anderen Triebes, welcher ein Rival dessen ist, der uns durch seine Heftigkeit quält: sei es der Trieb nach Ruhe oder die Furcht vor Schande und anderen bösen Folgen oder die Liebe. Während „wir“ uns also über die Heftigkeit eines Triebes zu beklagen meinen, ist es im Grunde ein Trieb, welcher über einen anderen klagt; das heißt: die Wahrnehmung des Leidens an einer solchen Heftigkeit setzt voraus, dass es einen ebenso heftigen oder noch heftigeren anderen Trieb gibt, und dass ein Kampf bevorsteht, in welchem unser Intellekt Partei nehmen muss.