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Das Ende

Noch in einem anderen Punkte, im Endpunkte, ließe sich die Tätigkeit des Gehirns oder das Gedächtnis mit der physiologischen Tätigkeit des Gesamtorganismus oder mit dem Leben vergleichen; nur daß dieser Gedanke auch solchen Lesern zu melancholisch erscheinen dürfte, welche diesen Betrachtungen bisher willig gefolgt sind. Es konnte nämlich bisher scheinen, als ob der Fortschritt in Leben und Denken, das, was man Entwicklung nennt, ungemessen sei, weil ja doch der Grundfehler des Gedächtnisses und der Vererbung, den wir mit einem gemeinsamen Worte die Anpassung genannt haben, mit Hilfe der unendlich kleinen Zwischenglieder in unendlich kleinen Zeiträumen sich als das weltbesiegende Wesen von Gedächtnis und Leben enthüllt hat. Immer vollkommenere Geschöpfe müßte die Erde tragen, immer vollkommeneres Denken müßte ihnen möglich sein. Diesem Glauben steht aber das Schreckbild gegenüber, das uns bei der Betrachtung der Ethnographie in der Tatsache periodischer Eiszeiten vor Augen treten wird. Wie der alljährliche, wenige Monate dauernde Erdenwinter zur Katastrophe wird für Billionen organisierter Individuen, so sehen wir in den periodischen Eiszeiten mit ihrer Dauer von 10 000 Jahren, in diesen Weltwintern, wie man diese Schreckensgespenster einer sehr einleuchtenden Hypothese nennen könnte, die rhythmisch wiederkehrende Katastrophe für die Kultur der Völker. Wenn mit dem Umsichgreifen solcher Weltwinter ganze Kontinente ihre Lebensbedingungen verlieren, wenn durch die verheerende Not von Klima und Nahrung unser stolzes Geschlecht herabsinken kann zu den leiblichen und geistigen Gewohnheiten der Eskimos und der Feuerländer, wenn erst in einem neuen Weltsommer eine neue Kultur erstehen muß, die nur mit dünnen Fäden an die vorangegangene Kultur geknüpft ist, so blicken wir in eine Weltordnung, für deren schauerlichen Zerstörungstrieb wir keine Worte mehr haben (vergl. II. 659). Nur ein Wahnsinniger auf dem Throne könnte mit den Kulturschätzen seines Volkes ein solches Wüsten und Verwüsten treiben. Es scheint dafür gesorgt, daß auch die Bäume des Menschengeistes nicht in den Himmel wachsen.

Aber auch wenn diese Hypothese von 10 000jährigen Weltwintern und Weltsommern unrichtig wäre, auch dann hätten wir keine Ursache, die Hoffnungen auf eine ungemessene Entwicklung des Menschengeistes zu übertreiben. Denn auch die Begriffe Kultur und Volk und Menschlichkeit sind ja doch nur Abstraktionen. Was lebt und was denkt, lebt und denkt nur im Individuum. Der individuellen Persönlichkeit aber sind doch noch ganz andere Grenzen gesetzt, als der Weltwinter sie dem Fortschritte der Menschheit auferlegt. Das Grauen vor dem Aufhören mag dem alten Goethe die glückliche Phantasie geschenkt haben, es müsse eine individuelle Unsterblichkeit geben, weil es zu dumm wäre, wenn Goethes Geist nach armseligen 80 Jahren sich nicht mehr weiter entwickeln dürfte. Doch es ist vieles wirklich, was dem Menschen zu dumm scheint. Alle Anpassung an die wechselnden Eindrücke der Umgebung, alle Anstrengung des Gehirns, durch provisorische Gleichsetzung des Ungleichen zum Begreifen der Welt zu gelangen, alle Sehnsucht, durch die Funktion des unendlich Kleinen den Grundfehler des Gedächtnisses zu seiner weltumfassenden Urkraft zu machen, der todesmutige Sprung des Menschengeistes hinein in die Welterklärung endet doch nur nach den wenigen Erdenjahren des individuellen Menschenlebens mit dem Bankerott des Geistes, mit der Unmündigkeitserklärung, mit dem Geständnis, daß der Übergriff vom Wort zur Wirklichkeit nicht gemacht werden könne, daß dieser Glaube nur vom geistigen Tode gefaßt werden könne oder zum geistigen Tode führe. Und genau ebenso steht es um die leibliche Anpassung des Organismus an die umgebende Welt. Unaufhörlich und unter all den Qualen, welche bald Wachstum bald Krankheit heißen, versteht der individuelle Organismus sich verändertem Klima und veränderter Nahrung, ja eigentlich auch sich den veränderten Geweben des eigenen Körpers anzupassen. Alle diese Veränderungen vollziehen sich in der Zeit von einigen Dutzenden unserer Erdensommer und Erdenwinter. Und wenn man ernsthaft von einer Eigenschaft der Anpassungsfähigkeit reden könnte, so müßte der individuelle Mensch schon auf Erden unsterblich sein und würde mit verknöcherten Blutgefäßen, mit versteinertem Herzen weiter atmen und weiter denken. Nach einigen Dutzend Jahren aber beginnt der Organismus zu keuchen und zu stocken und steht endlich still. Man nennt das den Tod. Und die Sprache der Menschen ist so hilflos dem Tode gegenüber wie dem Leben. Denn man könnte ebensogut sagen, der Tod trete ein, wenn die Anpassungsfähigkeit des Individuums aufhört, — als man auch sagen könnte: der Tod ist die letzte Anpassung des Individuums an die umgebende Welt. Nicht nur im Sinne Weismanns, der den Tod für eine spätere Anpassungsform der Organismen hält, weil die ältesten, einzelligen Organismen nicht sterben durften, sollte nicht mit dem Tode des Individuums die Art aussterben. Auch der vielzellige Organismus, auch der Mensch, hört während seines ganzen Lebens zu sterben nicht auf. Wir wissen nicht, was das Leben ist; also wissen wir auch nicht, was der Tod ist.

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