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Gedächtnis und Wahnsinn

Die äußeren Innervationen, die durch die peripheren Nervenenden, geben uns etwas der Wirklichkeitswelt irgendwie Entsprechendes. Gedächtnis ist unser Ich, Gedächtnis allein ermöglicht uns, unser Ich der übrigen Welt gegenüber zu stellen. Gedächtnis als Sprache hilft uns, die sogenannten Kenntnisse von der Außenwelt zu sammeln und mitzuteilen, Gedächtnis kontrolliert die Angaben der Sinne daraufhin, ob sie von der Wirklichkeitswelt kommen. Schwaches oder teilweise zerstörtes Gedächtnis läßt uns im Traum Trugbilder für wahr halten und geschwächtes oder teilweise zerstörtes Gedächtnis führt uns im Wahnsinn ähnliche Trugbilder vor und läßt uns dann, da wir wach sind, auch nach ihnen handeln.

So sind wir dazu gelangt, aus der Vergleichung mit verwandten Denkstörungen zu vermuten, daß alle Wahnsinnsformen (auch solche, die nicht geradezu Sprachstörungen sind) auf eine Gedächtniskrankheit, einen Gedächtnismangel, oder wie man besser für Krankheit sagen will, zurückzuführen seien.

Nun ist es für diese Überzeugung wichtig und bestärkend, daß ein so vorsichtiger Forscher wie S. Stricker zu dem gleichen Ergebnis kommt, um so wichtiger, als Stricker doch noch von Zeit zu Zeit recht mythologische Begriffe anwendet.

Er weiß, daß alle unsere Sätze aus der Erfahrung stammen. Trotzdem kennt er neben den Erfahrungsurteilen (denen a posteriori) noch besondere Urteile a priori, die er etwas oberflächlich als solche Urteile definiert, die wir uns gar nicht anders denken können. Er fügt hinzu, daß in den Fällen, wo es sich um schwieriges Erkennen eines Wahnsinnsfalles handle, falsche Urteile a priori nie in Frage kommen.

Ich würde sagen: Es gibt neben den Erfahrungssätzen, das heißt neben unseren selbsterworbenen Kenntnissen, auch viele ererbte Sätze, die wir ihrer Urweisheit wegen (oder weil unsere Erfahrungskenntnisse sprachlich auf ihnen ruhen) für tiefer, älter, ursprünglicher halten, die wir darum Urteile a priori nennen. Wie nun das Gehirn die ältesten Sprachvorstellungen, die eingeübtesten, am längsten behält, die jüngsten aber, die schlecht geübten, am ehesten vergißt, so kann auch der Geisteskranke noch die abgrundtiefen Sätze a priori, die ererbten (in diesem Sinn also angeborenen Urteile) am kleinen Finger haben, während er seine eigene Adresse vielleicht vergessen hat.

Damit zu vergleichen ist die oft beobachtete Erscheinung, daß Sprachkranke immer noch im stände sind, die Wochentage, die Monate, die Reihe der Ziffern oder gar das Vaterunser fließend herzusagen, während sie sonst keinen vernünftigen Satz zu bilden vermögen. Dahin gehört es auch, wenn die klinische Erfahrung imbezille Rechenkünstler und Klavierspieler kennt, wenn im vorgeschrittenen Stadium der Paralyse Juristen noch ihre Paragraphen zitieren, Ärzte noch ihre Rezepte schreiben; wenn Querulanten mit ausgesprochener Paranoia ein ausgezeichnetes Gedächtnis zeigen für die Veranlassung ihrer Wahnvorstellungen; wenn Idioten, die erworbene Vorstellungen nicht mehr assoziieren können, dennoch ein gutes Gedächtnis für erlernte Urteile haben. Die Masse des Publikums, das ästhetische, politische und sittliche Urteile nachspricht, macht einen ähnlich idiotischen Eindruck innerhalb der physiologischen Grenze. Der Grad der Einübung kann das ungleiche Gedächtnis bei Geisteskranken erklären. Man darf wohl sagen, daß diese unendlich eingeübten Reihenden erwähnten Kranken zu Wortfolgen a priori geworden sind. Auch altberühmte Sätze aus dem Urbestand menschlicher Metaphysik sind solche Wortfolgen a priori, nicht Urteile a priori.

Jedenfalls behauptet Stricker erfreulicherweise, mit wissenschaftlicher Schärfe sei der Wahnsinn nur für reine Urteile a posteriori von der Außenwelt zu bestimmen. Und er nennt es die erste Bedingung für das Entstehen von Wahnvorstellungen, daß dominierende Vorstellungen sich eines Menschen bemächtigen, die nicht immer krankhaft sein müssen, die aber durch häufige Wiederkehr fix werden können. Die erklärende Annahme, daß sich in solchen Fällen die Funktion bestimmter Nervenfasergruppen in den Vordergrund drängt, die durch Erkrankung für innere Erregungen leichter empfindlich gemacht worden sind, diese Annahme ist uns eine wahrscheinliche, aber dennoch gleichgültige Hypothese.

Das aber ist klar, daß die dominierenden Vorstellungen erst dann völlig über die Wirklichkeitswelt täuschen, uns in einen Wahn versenken können, wenn wir in Zwiespalt zwischen inneren und äußeren Nervenerregungen den inneren (wie im Traum) den Vorzug geben. Was heißt das in unserer Sprache?

Daß ein traumartiger Wahnsinn erst da vorhanden ist, wo unsere Wahrnehmungen des Wirklichen sich nicht mehr mit unserem Gesamtwissen assoziieren, das heißt, wo unser potentielles Wissen von uns ganz oder teilweise vergessen ist, Zu demselben Ergebnis kommt Stricker, wenn er (Stud. ü. d. Bewußtsein S. 98) sagt: "In den Fällen von Verrücktheit, welche ich genau zu examinieren in der Lage war, habe ich von den Kranken Aussagen gehört, welche vermuten lassen, daß sie ihre Wahnideen deswegen nicht zu korrigieren vermochten, weil sie einen, wenn auch kleinen Teil ihres Erinnerungsvermögens eingebüßt hatten. Ein Kranker antwortete: man merke sich nicht alle Umstände, durch welche man zu seinen Überzeugungen gelange; ein anderer, daß es so sei (daß ihn nämlich der Wirt vergiften wolle), wisse er gewiß; aber er wisse jetzt nicht mehr, wie er zu der Überzeugung gekommen sei.

Was also nicht zerrissen ist, das ist das logische Band zwischen den einzelnen Sätzen. Ein Verrückter mag so logisch denken können wie Aristoteles. Das Band zwischen seinem Denken und der Wirklichkeitswelt, sein Gedächtnis, diese Summe von Zeichen für Wahrnehmungen der Außenwelt, dies ist zerrissen.

Verrücktheit ist eine Gedächtniskrankheit, weil Denken oder Sprechen eben nichts ist als Gedächtnis. Wer an Aphasie leideb, kann vielleicht (wie eben erwähnt) immer noch die am besten eingeübten Wortfolgen aufsagen; andere Kranke sprechen die Worte eines Liedes richtig her, wenn ihnen die Melodie vorgespielt wird. Solche Gehirnkranke haben also (könnte der Wortaberglaube einwenden) noch ein leistungs- fähiges Gedächtnis, während sie nicht mehr denken können. Leere Worte. Was das ist im Aphasischen, das angeblich denkt und sich nicht aussprechen kann, das wissen wir nicht, das können wir höchstens mit einem Namen, mit einer Etikette versehen. Ein Gedächtnis, das nur noch zu assoziieren vermag, das keine Brücke kennt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen sich und der Umgebung, zwischen dem Anstoß zu den Assoziationen und den Assoziationen selbst, das ist ein krankes Gedächtnis, das ist kein menschliches Gedächtnis mehr.

Nebenbei sei bemerkt, daß bei Geisteskranken auch die Assoziationen sich nicht normal vollziehen, daß den verschiedenen Gedächtnisfehlern (der Hypermnesie, der Paramnesie und der Amnesie) ähnliche Fehler in der Kraft und Richtigkeit der Assoziationen entsprechen.

Die schwierige Klassifikation der Geisteskrankheiten ließe sich ein wenig verbessern, wenn man die Krankheiten nach den psychischen Tätigkeiten ordnen wollte, die wir als Gedächtniserscheinungen kennen gelernt haben. Selbstbewußtsein, Assoziation, Denken, Sprache zeigen entsprechende Krankheitsbilder. Beim Melancholiker arbeitet Gedächtnis und Sprache langsam. Für die plötzlichen Anfälle des Epileptikers ist die sogenannte inselförmige Erinnerung charakteristisch. Und da wir die Sprache als die menschlichste Erscheinungsform des Gedächtnisses erkannt haben, da sich der subjektive Gedächtnisdefekt des Kranken objektiv fast nur an Sprachstörungen beobachten läßt, so ist es natürlich, daß der Psychiater diese Symptome besonders zu beobachten hat. Esquirols Satz ist noch nicht vergessen: "L'embarras de la parole est un signe mortel".

Schon Schopenhauer hatte den Wahnsinn als eine Krankheit der Erinnerungsfähigkeit erklärt. Da er aber die Bedeutung des Gedächtnisses nicht erkannte, da er dessen Identität mit dem Denken oder Sprechen nicht ahnte, ja ein Lobredner des menschlichen Verstandes war, so konnte er den hingeworfenen Gedanken nicht weiter verfolgen. Beachtenswert (wenn auf Tatsachen sich stützend) wäre seine Notiz, daß Schauspieler mehr als Angehörige eines anderen Standes dem Wahnsinn ausgesetzt sind; weil sie mit dem Gedächtnis einen ganz eigentümlichen Mißbrauch treiben.

Ob die Wahnsinnsgefahr für Monarchen, wie Esquirol annimmt, den gleichen Grund habe oder tiefer liege, bleibe dahingestellt; denn ein einigermaßen gutes Gedächtnis, das sonst gerade nur zur Ausübung einer organisatorischen Tätigkeit reichen würde, erregt bei Monarchen nur gar zu leicht Staunen und Bewunderung.

Dabei sind Schopenhauers Bemerkungen durch seine dominierenden Vorstellungen von dem Realwerte der Worte: Wille, Idee, Zweck u. s. w. so irregeleitet, daß er wie überall auch hier leicht ins Mythologische verfällt. Ihm ist die Natur so teleologisch, daß die Ohnmacht bei übergroßen Schmerzen aufzufassen wäre als heilende Aufhebung des Gedächtnisses, so wie etwa ein Chirurg brandige Glieder abschneidet, um das Ganze zu retten. Auch ich habe oft solche erklärende Bilder, wie wenn ich den Tod die Rettung vor dem Lebensschmerz nenne; was ich aber immer metaphorisch verstehe, das meint Schopenhauer so ernsthaft, als Metaphysik nur ernsthaft sein kann.

Welche Mythologie Schopenhauer mit seinen Lieblingsbegriffen treibt, erhellt besonders aus seiner Behauptung, die Raserei ohne Wahnsinn, die mania sine delirio, sei — wenn sie überhaupt existiere — so zu erklären, daß der "Wille" sich nach wie vor unter der Leitung des intuitiven Verstandes befinde, aber die Vernunft, d. h. das Denken in Begriffen. schon abgeschüttelt habe. Ich kann mir das nur so vorstellen — mit Benutzung echt Schopenhauerscher Bilder —, daß der Wille in solchen Fällen ein besoffener Kutscher ist, denn das bessere vernünftige Handpferd scheu geworden ist, so daß er mit dem blinden Sattelpferd allein umschmeißen muß: wobei es fraglich bleibt, ob der besoffene Kutscher, der Wille. nur ein Diener des Besitzers oder der Besitzer selbst ist.

Scholastisch ist es, daß Schopenhauer hier tiefsinnig eine Tatsache erklärt, die ihm noch gar nicht ausdrücklich verbürgt ist; schlimmer als scholastisch ist es, daß er weitere Gründe für seine Behauptung aus der Legende des Buddha Schakya-Muni nimmt (bei dessen Geburt unter anderen Wundern auch die Wahnsinnigen ihr Gedächtnis wieder erhielten), seine Beispiele von Lear oder gar vom rasenden Ajas.

Bei all diesen Gedanken habe ich die Vorstellung Wahnsinn an die allgemeinere Vorstellung "Gedächtnis" geknüpft und nicht an die engere "Aufmerksamkeit", von der ich ausgegangen war Ich hätte ja auch sagen können, Wahnsinn, sei eine Entartung der Aufmerksamkeit (oder des Interesses). Das wäre aber für viele Leser umso irreführender gewesen, als es noch paradox klang, wenn ich (S. 565) sagte, die Aufmerksamkeit (oder wieder das Interesse) seien nur Entwicklungsstadien des Gedächtnisses. Der Wahnsinn kann sich mehr an das Interesse heften, das die Auswahl unter den Erinnerungen trifft, oder mehr an die Aufmerksamkeit, die eine Erwartung mitbegreift, sich um Zukünftiges kümmert. Immer handelt es sich dabei um Gedächtnisakte.

Endlos haben die Philosophen der Philosophiegeschichte die Aufmerksamkeit mit dem menschlichen Willen verknüpft; alle von Descartes bis Schopenhauer und bis Jodl. (Von noch viel älterer Zeit an bis vor kurzem, beim Volke bis heute, hat man den Wahnsinn wie eine Willenshandlung ethisch verabscheut.) Sehr langsam bricht die Anschauung sich Bahn, daß die Aufmerksamkeit als eine Gedächtnisarbeit selbst wieder eine Arbeit ist, dazu unser Gefühl von der Arbeit. Aus der biologischen Arbeit des hungernden, lauernden, spähenden Tieres entstanden. Wahnsinn, Genie, Gedächtnis (Aufmerksamkeit) haben nichts mit dem Fetisch Wille zu schaffen.

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