Zum Hauptinhalt springen

Physiologische Psychologie

Erst unter der hundertjährigen Herrschaft des tapferen materialistischen Irrtums ist also die vermeintliche Wissenschaft der Psychologie endlich auf den verzweifelten Ausweg geraten, sich unter die Physiologie zu flüchten. Die moderne Psychologie will physiologisch werden. Das Verzweifelte an diesem Schritte liegt auch darin, daß die Psychologie doch eigentlich das Geistesleben des Menschen erforschen wollte, daß sie auf ihrem alten Wege jede Hoffnung aufgeben mußte, daß sie sich dann der Wissenschaft vom ungeistigen Leben, vom Tier leben des Menschen anvertraute, und daß nun wiederum diese Wissenschaft, die Physiologie, ebenso unfähig ist, ihrerseits die Lebenserscheinungen auf die scheinbar besser bekannten Erscheinungen der Physik zurückzuführen. Die Physiologie oder die Lehre vom Leben hat eine Unzahl interessanter Beobachtungen gesammelt, die noch vor hundert Jahren unbekannt waren, und die recht oft praktische Verwendung finden können; aber die Erscheinungen des Lebens sind heute wie vor Jahrtausenden noch in keinem einzigen Punkte auf Erscheinungen der Physik zurückgeführt. Es wäre denn, man gäbe sich damit zufrieden, daß im lebendigen Körper nebenbei auch die sogenannten physikalischen und besonders die chemischen Gesetze als wirkend nachweisbar sind. Nicht ein leises Flimmern des Lebens aber ergibt sich aus ihnen; das Leben besteht neben ihnen oder - wie der Mensch zu sagen pflegt, weil er lebt — über ihnen.

Die Unmöglichkeit, die Lebenserscheinungen zu erklären, wird höchst wahrscheinlich doch nur darauf beruhen, daß wir alle solche Erklärungen an das zufällig vorhandene Wörtchen "Leben" anzuknüpfen gewohnt sind. Überall haben wir ja diesen Sprachaberglauben gefunden. Hier aber ist seine Wirkung besonders toll, weil ja dieses Leben, das wir zu kennen glauben und erklären wollen, das Geheimnis unseres Daseins ist, weil dieses Leben als sein Kennzeichen überall die Empfindung, die Reaktion auf Reize besitzt, und weil dieses Kennzeichen sich im Menschen zu einem Empfindungsgedächtnis, dem Denken, entwickelt hat und wir nun dieses Empfindungsgedächtnis törichterweise auf das Leben anwenden wollen. Wir wollen mit dem Auge ins Gehirn hineinsehen, mit der Grubenleuchte in den noch ungegrabenen Schacht hineinleuchten; wir wollen mit dem Bewußtsein das unbewußte Werden erkennen, mit den Namen der Sprache das namenlose Leben benennen. Das Leben ist eine Erscheinung, und wir wollen mit einem Organ des Lebens hinter die Erscheinung dringen. Es ist, als ob wir an einen Spiegel gefesselt wären, so zwar, daß er jede unserer Bewegungen mitmachen müßte und wir uns mit dem Spiegel im Kreise drehen wollten, um hinter den Spiegel zu gelangen.

Das Leben ist eine Erscheinung, wie die Elektrizität eine Erscheinung ist. Wir tun ganz recht daran, die Erscheinungen des Lebens mit denen der Physik zu vergleichen, und diese Vergleichung Physiologie zu nennen, wie es klug von uns ist, die Erscheinungen der Elektrizität mit denen der älteren Physik zu vergleichen. So wenig aber der elektrische Draht daran denken kann, zu ergründen, was er tut oder was an ihm geschieht, so wenig darf der lebendige Mensch hoffen zu ergründen, was er ist. Wir (Menschen) nennen das Wesen des elektrisch gewordenen Drahtes Elektrizität, wir (Menschen) nennen das Wesen der empfindenden Organismen Leben; dieses "wir" ist aber durchaus nicht ein mit höherer Weisheit begabter Denkmensch, der etwa dem lebendigen Menschen über die Schulter sähe, dieses "wir" ist nichts weiter als die menschliche Sprache, die seit Jahrtausenden gewohnt ist, die Fragen nach der menschlichen Notdurft und nach anderen greifbaren Dingen zu stellen und zu beantworten, und die darum in stupider Gewohnheit oder in schreiendem Erkenntnisdrang auch unmögliche Fragen stellt und sie unmöglich beantwortet, sowie sich diese Fragen an der Grenze der Worte durch diese Grenze selbst ergeben. Eine dieser Grenzen, wo die Worte mit ihrer Stirn gegen das harte Nichts anstoßen, ist die Psychologie. Und wenn die physiologische Psychologie wirklich einmal dahin käme, die Erinnerungsassoziationen im Gehirn unter dem Mikroskop in unterscheidbare Nervenbahnen aufzulösen und so oder so an Stelle des Denkens sichtbare Gehirntätigkeit zu setzen, was niemals geschehen kann, so wäre damit zwar ein physisches Korrelat zum Geistesleben des Menschen aufgezeigt, aber die Rätsel wären nur verdoppelt, da nun. zu dem Geheimnis der Empfindungsassoziationen auch noch das weitere Geheimnis der psychophysischen Verbindung käme. Die mögliche Fragestellung für die Psychologie ist noch nicht gefunden.

Ich habe mich darum keinem der Forscher, die sich selbst Psychologen nennen, als einem Führer anvertrauen können. Wie konnten sie mir eine Psychologie der Sprache bieten, die die Sprache der Psychologie noch nicht einmal einer Kritik wert gefunden hatten! Auch die besten Köpfe unter ihnen sind außer stande, die Einheit ganz klar zu begreifen, die zwischen der Wirklichkeitswelt als unserem psychologischen Erlebnis und unserer Erkenntnisarbeit als unserem psychologischen Leben besteht. Bis zur Stunde verdoppelt die Psychologie die Welt, sieht sie einmal als Leben, einmal als Erlebnis. Wie ein Wilder sich zweimal glauben würde, weil er sich im Spiegel gesehen hat.

Auch die Ergebnisse der experimentellen Psychologie habe ich, nachdem mir das Studium dieser Literatur viel Zeit geraubt hatte, nur selten heranziehen können. Die Grobheiten, mit denen Rudolf Willy (Gegen die Schulweisheit, 120 ff.) meine Sprachkritik beehrt, können mich nicht abhalten, mir einiges Gute zu eigen zu machen, was er in seiner "Krisis der Psychologie" gegen die experimentelle Psychophysik vorgebracht hat. Willy hat erkannt (S. 74), daß bei jedem Versuche der ganze Mensch tätig ist und nicht der befragte psychomechanische Nebenapparat, daß in der Psychologie alle Zahlengrößen, selbst die Numerierung der Sterngrößen, nur metaphorische Bedeutung besitzen. Er steht ebenso wie Münsterberg seinem Lehrmeister Wundt kritisch gegenüber.