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Religion und Wissenschaft

Ich habe an diese Entwicklung der jüdischen Religion erinnern müssen, weil da an einer historischen Tatsache zufällig der Übergang vom Fetisch zum Wort deutlich gemacht werden konnte. Es ist in historischer Zeit und in heller Beleuchtung der Opferdienst des Tempels zum W ortdienst der Synagoge geworden, und heute lebt der Rabbiner ebenso von dem Wortaberglauben seiner Gemeinde wie einst der Levite von den dargebrachten Naturalopfern. Das "Lernen" der orthodoxen Judengemeinde in Polen beschränkt sich auf den heiligen Text der Bibel. "Lernen" heißt in ihrem korrumpierten Deutsch bald das Beten oder das Vorlesen aus der Bibel, bald das theologische Forschen, das heißt die Anwendung der Logik auf die Bibelworte. Dieses orthodox jüdische Lernen unterscheidet sich vom wissenschaftlichen Denken also nur durch die theologische Beschränktheit. Und darum schien es mir ein gutes Beispiel zu sein zu dem Hinweise, daß in all unserem Denken oder Sprechen Theologie verborgen sei, daß Worte bloße Götter seien. Dieser Gedanke ist bis zur Stunde so fremdartig, daß ich nicht zögern darf, selbst auf die Gefahr von Breiten und Wiederholungen, ihn vorstellbarer zu machen. Ich will also sagen, daß unser Glaube an die Logik, unser Glaube, es werde durch logische Operationen unsere Welterkenntnis vermehrt, ein theologischer Glaube sei. Ich will sagen: Der logische Schluß des orthodoxen Rabbiners unterscheidet sich nur durch den Ausgangspunkt von den Wortergebnissen der Wissenschaft. Der Rabbiner geht von der Vorstellung aus, Jahve habe den Juden verboten, das Zicklein in der Milch seiner Mutter zu kochen, und habe damit symbolisch das Verbot auf jede Verbindung von Fleisch und Milch ausdehnen wollen. Hätte nun nachweisbar Jahve, der Gott des Stammes, diese Worte dem Moses diktiert und hätte er nachweisbar mit diesem Verbote jede analoge Speise gemeint, so hätten die Rabbiner ja recht; und die jüdische Hausfrau des Ostens wäre Jahve gegenüber verpflichtet, sich Zeit ihres Lebens zum Vorteil der Rabbiner mit der Unterscheidung von "fleischigem und milchigem Geschirr" zu plagen. Wrir lachen über alle diese Sorgen, aber wir ahnen noch nicht, daß unser Vertrauen auf die durch unsere Logik geschaffenen Denkergebnisse zuletzt auf den Aberglauben an eben solche Fetische, an Worte, zurückgeht.

Um diese Ahnung endlich mächtig werden zu lassen, muß ich mit zwei Worten etwas weiter ausholen. Wenn uns die talmudische Beschäftigung einer orthodoxen Judengemeinde inmitten eines Staates, dessen gebildete Kreise ungefähr in den Anschauungen von Kant, Darwin und John Stuart Mill leben, nicht als Wissenschaft, sondern als bloß religiöse Denkübung erscheint, so liegt das doch nur daran, daß die Sprache dieses "Lernens" um ein bis zwei Jahrtausende hinter der Sprache unserer Wissenschaft zurückgeblieben ist. Die Logik des Talmuds war seiner Zeit und innerhalb des Stammes Wissenschaft, so gut wie die Koranerklärung vor tausend Jahren und um dieselbe Zeit die christliche Dogmatik Wissenschaft war. Alle Religion ist Wissenschaft für die Gläubigen. Die Scholastiker wußten nur nicht, daß sie ungläubig zu werden anfingen, als sie die Lehren der Kirche in die natürliche oder Vernunftreligion und in die offenbarte Religion schieden. Die Kirche hatte von ihrem Standpunkt ganz recht, wenn sie diesen Unterschied nicht dulden wollte. Denn in dem Augenblicke, wo man einen Teil ihrer Lehre auf die scheinbar so wohlbekannte Vernunft stützte, den anderen Teil auf die nie zu beweisende Offenbarung, wurde die Vernunft der Offenbarung unwillkürlich gegenübergestellt, und wirklich setzte die Kritik schon damals vorsichtig ein. Die offenbarte Religion ist gegenwärtig für diejenigen Bevölkerungskreise, an welche sich diese wie jede ernstliche Kritik wendet, nicht mehr vorhanden. Was ist aber denn eigentlich die noch übrig gebliebene natürliche oder Vernunftreligion für uns? Was ist für uns der konsequente Protestantismus? Wir können da nicht aufmerksam genug sein. Die natürliche Religion des konsequenten Protestantismus oder des Rationalismus, wie sie in Deutschland am klarsten und vielleicht am schlausten von Kant und von Lessing (gymnastikôs) gelehrt wurde, ist teils Moral, teils Welterkenntnis. Das Moralische lasse ich in diesem Buche gern beiseite, um die Wortkritik nicht allzu sehr zu belasten. Die Religion als Weltanschauung aber ist für alle Deisten, d. h. für solche, die sich von der offenbarten Religion abgewendet haben, "die Weise, Gott zu erkennen und zu verehren". Da jedoch Gott für alle klaren Deisten nur die Hypothese einer persönlichen Weltursache ist, da die menschenähnliche Persönlichkeit Gottes, der krasse Anthropomorphismus, vom konsequenten Protestantismus längst preisgegeben worden ist, da die Verehrung Gottes — nach Aufhebung seiner menschenähnlichen Persönlichkeit — nur noch ein bildlicher Ausdruck für das Gefühl der Ehrfurcht vor dem Weltganzen sein kann, so läuft diese Definition der Religion doch schließlich darauf hinaus: Religion sei die Weise, die Ursache der Welt ehrfurchtsvoll zu erkennen. Die Ehrfurcht kann sich natürlich nur an die wirkliche Erkenntnis heften, nicht an bloße Hypothesen, Besäßen wir Welterkenntnis, so würde sie mit Recht Ehrfurcht fordern, wie denn auch die Führer zum sozialistischen Zukunftsstaat die Hypothesen der materialistischen Welterklärung gern mit andächtigen Worten an die Stelle der alten Religion setzen. Unsere Weltanschauung ist nur darum keine Religion mehr, weil wir Skeptiker sind, weil uns unsere eigene Weltanschauung nur eine Hypothese ist, also auf Ehrfurcht keinen Anspruch machen kann.