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Wortaberglaube

Platon und andere gute Philosophen des Altertums berufensich oft auf Verse des Homeros, als wenn der Dichter eine Autorität für die Wirklichkeit wäre. Die Verse sind ihnen nicht schmückende Zitate, auch nicht moralische Stützen, ihres Beweises, sondern wirklich etwas wie Lehrsätze. Man ist heute feiner geworden. Aber die Worte, die das Volk sich in seiner Not oder in seinem Aberglauben erfunden hat, werden immer noch so behandelt, als ob das Dasein eines Worts ein Beweis für die Wirklichkeit dessen wäre, was es bezeichnet.

Wie eine Parodie auf die Entstehung der Sprache mutet uns das Allerweltswort "bedeuten" an. Von dem ursprünglichen Sinne "durch Hindeutung etwas veranlassen", z. B. einem etwas zu tun bedeuten, ist es mit der Zeit eine Bezeichnung geworden für alle Fälle, in denen auf etwas anderes, Fremdes, Ungenaues hingedeutet wird. Durch Metaphern hat sich die Sprache entwickelt, dadurch also, daß ein Wort gelegentlich etwas anderes bedeutete, als es bedeutete. Jetzt versteht man unter "bedeutend", was von Wichtigkeit ist; noch Goethe, der das Wort sehr liebte, versteht unter bedeutend etwa so viel wie bezeichnend, charakteristisch. Es wäre gut, das viel mißbrauchteWort auf Erklärung von Metaphern einzuschränken; in dem Satze z. B. "sie zählte siebzehn Lenze'' bedeutet Lenze Jahre.

Der menschliche Aberglaube besaß aber an "bedeuten" ein vortreffliches Wort für dies Hindeuten eines Zeichens auf ein künftiges Ereignis oder auf eine verborgene Tatsache; und weil er das WTort hatte, so gebrauchte er es. Versteckte sich doch hinter den Naturerscheinungen die Macht von Göttern, welche mit Zeichen und Wundern Künftiges und Verborgenes mitteilten, so wie die Priester durch Worte Künftiges und Verborgenes enthüllen. Man fragte also: Was bedeutet dieses Erdbeben? Was bedeutet diese Mißgeburt? Was bedeutet dieser Komet?

Heute ist man furchtbar aufgeklärt und überläßt Erdbeben, Mißgeburten und Kometen der Naturforschung. Findet man aber irgendwo im Sprachgebrauche ein altersschwaches Wort, das man nicht mehr versteht, so fragt man mit dem gleichen Aberglauben: Was bedeutet Seele? Was bedeutet Vernunft? Was bedeutet Stoff? Als die Geologie noch lehrte, Gott habe die Felsen geschaffen und die Abdrücke von Pflanzen und Tieren gleich mit hineingeschaffen, da fragte man: Was bedeuten diese Naturwunder? Jetzt erklärt man die Abdrücke von Pflanzen und Tieren aus der Entstehung der Erde und der Entwicklungsgeschichte der Arten und fragt: Was bedeutet Entwicklung?