Zum Hauptinhalt springen

Sprachvermögen

Nur scheint. Wir müssen eben die Sprache unter die übrigen Tätigkeiten des Menschen rechnen alswie das Gehen, das Atmen. Da ist es für einen Biologen gar kein unsinniger Gedanke, daß der Mensch nicht geht, weil er Beine hat, sondern daß er Beine hat, weil er geht; daß der Mensch nicht atmet, weil er eine Lunge hat, sondern daß er eine Lunge hat, weil er atmet.

Richtiger: die Entwicklung des Werkzeugs und die Steigerung der Tätigkeit gehen parallel nebeneinander her. Nehmen wir nun das wirkliche Sprachwerkzeug (unter Sprachwerkzeug verstehe ich außer dem Tonapparat auch alle ihm dienenden oder befehlenden Muskeln und Nerven) als den tatsächlichen Ausdruck für ein geträumtes Sprachvermögen, so ist es allerdings möglich, daß die Entwicklung der menschlichen Sprache neben der Entwicklung der menschlichen Sprachorgane einhergegangen sei.

Fassen wir diesen Gedanken ganz scharf ins Auge, so sehen wir hoffentlich, daß - in wie unendliche Zeiträume wir auch den Ursprung der Sprache zurückverfolgen mögen - wir doch niemals an einen Moment gelangen, wo wir die Vorstellung konkreter Sprachlaute verlassen müßten, wo wir nach dem Ursprung des Abstraktums Sprache fragen müßten.

Der Wert dieses Gesichtspunktes scheint mir darin zu bestehen, daß wieder einige Abstrakta aus dem Wissenschaftlichen Gebrauche hinausgeworfen wurden. "Sprachvermögen " oder "die Gabe der Sprache" wird definitiv überflüssig, wenn klar erkannt wird, daß der Sprachgebrauch, d. h. hier die Ausübung der Sprachtätigkeit, sich erst das Sprachwerkzeug ausgebildet hat. Man wird dann den Begriff "Sprachvermögen'' ebenso absurd finden, als etwa ein besonderes "Gehvermögen" oder ein besonderes "Atmungsvermögen". Gewiß liegt im selbsttätigen Fortbewegen des Tieres gegenüber dem Abwarten der Pflanze die Möglichkeit höheren Komforts; doch hat sich das Bewegungswerkzeug durch Gehen erst entwickelt. Ebenso ist das Atmen der Luft durch Lungen wahrscheinlich komfortabler, als die Benützung der Luft im Wasser durch die Kiemenatmer; doch wird kein Mensch die allmähliche "Entwicklung" dieser "Gabe" übersehen können, da jeder Frosch ein Beispiel bietet.